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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Ossipowna für sie empfand, wurde besonders stark in ihrem Herzen, wenn sie den kleinen David betrachtete.
    Meistens saß der kleine Junge unbeweglich und schweigend da. Manchmal zog er eine zerdrückte Streichholzschachtel aus der Tasche, warf einen Blick hinein und ließ das Schächtelchen wieder in seiner Tasche verschwinden.
    Sofja Ossipowna hatte schon mehrere Nächte hindurch kein Auge zugemacht, sie hatte kein Bedürfnis nach Schlaf verspürt. Und auch in dieser Nacht saß sie in der stinkenden Dunkelheit schlaflos da. »Wo mag jetzt wohl Genia Schaposchnikowa sein?«, fragte sie sich plötzlich. Sie hörte Gemurmel, hörte Aufschreie und dachte, dass in den Köpfen der unglücklichen Schläfer jetzt mit furchtbarer Intensität Bilder aufschienen, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben waren. Wie sollte man sie, diese Bilder, bewahren, wie sich daran erinnern, wenn der Mensch auf Erden überlebte und einmal von dem erfahren wollte, was geschehen war?
    »Slata! Slata!«, rief eine schluchzende Männerstimme.
    44
    In Naum Rosenbergs vierzigjährigem Gehirn wird die gewohnte Buchhalterarbeit geleistet. Er geht die Straße entlang und rechnet: Vorgestern waren es einhundertzehn, gestern einundsechzig, dazu kommen sechshundertzwölf aus den fünf Tagen vorher, macht siebenhundertdreiundachtzig … Schade, dass er Männer, Frauen und Kinder nicht getrennt gezählt hat … Frauen verbrennen leichter. Ein erfahrener Brenner stapelt die Leichen so, dass die knochigen, viel Asche produzierenden Greise neben den Leichen von Frauen zu liegen kommen. Gleich würde das Kommando – »Runter von der Straße!« – erklingen; so hatten sie im Jahr zuvor die Menschen herumkommandiert, die sie jetzt ausgruben und mit an Seilen befestigten Haken aus den Massengräbern herauszerrten. Ein erfahrener Brenner erkennt an einem noch nicht aufgegrabenen Hügel, wie viele Leichen in der Grube liegen – fünfzig, hundert, zweihundert, sechshundert, tausend … Scharführer Elf verlangt, dass die Leichen Figuren genannt werden – hundert Figuren, zweihundert Figuren –, aber Rosenberg nennt sie Menschen: ein getöteter Mann, ein hingerichtetes Kind, ein hingerichteter Greis. Er nennt sie im Stillen so, sonst würde ihm der Scharführer neun Gramm Metall verpassen, aber er murmelt starrsinnig: Jetzt kommst du aus der Grube, du hingerichteter Mann … klammere dich nicht an deine Mama, Kind, ihr bleibt ja beisammen … »Was murmelst du denn da?« … »Ich? Nichts. Das scheint Ihnen nur so.« Und er murmelt weiter, kämpft seinen kleinen Kampf. Vorgestern hatten sie eine Grube, in der acht Menschen lagen. Der Scharführer schrie: »Das ist der reine Hohn, eine Mannschaft von zwanzig Brennern verbrennt acht Figuren.« Er hat ja recht, aber was hilft es, wenn in dem Dörfchen nur zwei jüdische Familien gelebt haben. Befehl ist Befehl: Alle Gräber aufgraben und alle Leichen verbrennen … Jetzt sind sie von der Straße abgebogen, gehen durchs Gras, und da liegt zum einhundertfünfzehnten Mal ein grauer Hügel auf einer grünen Waldwiese – ein Grab. Acht graben, vier fällen Eichenstämme und zersägen sie in Scheite von der Länge eines menschlichen Körpers, zwei spalten sie mit Beilen und Keilen, zwei tragen von der Straße trockene alte Bretter, Anheizmaterial und Benzinkanister heran, vier bereiten den Platz für das Feuer vor, graben eine Rinne für das Zugloch – mal überlegen, woher der Wind weht.
    Auf einmal ist der modrige Waldgeruch weg, der Posten lacht, flucht, rümpft die Nase, der Scharführer spuckt aus und geht an den Waldrand. Die Brenner werfen die Schaufeln weg, greifen zu den Stangen, die am Ende mit einem Haken versehen sind, und binden sich Lappen vor Mund und Nase … Guten Tag, Großväterchen, Sie müssen noch mal die Sonne erblicken, wie schwer Sie sind … Eine tote Mutter und drei Kinder – zwei Jungen, einer schon ein Schulkind, das Mädchen Jahrgang neununddreißig; es war rachitisch – macht nichts, jetzt lebt es nicht mehr … Halt dich doch nicht so an der Mama fest, Kind, sie läuft dir schon nicht davon …
    »Wie viele Figuren?«, schreit der Scharführer vom Waldrand herüber. »Neunzehn«, und leise für sich: »ermordete Menschen.« Alle fluchen – Mittag ist schon vorbei. Dafür haben sie in der vorigen Woche ein Grab aufgemacht – zweihundert Frauen, alles junge. Als sie die oberste Erdschicht weggenommen hatten, hing über dem Grab grauer Dampf, und der Posten hatte gelacht: »Heiße

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