Leben und Schicksal
Weiber!« Über die Rinnen, durch die die Luft zieht, stapeln sie das Brennholz, darauf kommen die Eichenscheite – sie ergeben Kohle mit hohem Heizwert – darauf die toten Frauen, darauf Brennholz, darauf die toten Männer, darauf wieder Brennholz, darauf lose Leichenteile, dann ein Kanister Benzin darüber, dann mitten hinein eine Fliegerbrandbombe, dann kommandiert der Scharführer, und der Posten lächelt im Voraus – die Brenner singen im Chor. Der Scheiterhaufen brennt! Dann schaffen sie die Asche in die Grube. Wieder Stille. Es war still und ist wieder still geworden. Dann werden sie in den Wald geführt, sie erblicken keinen Hügel im Grün. Der Scharführer befiehlt, eine Grube zu graben – vier mal zwei; alle haben es kapiert; sie haben ihr Soll erfüllt: neunundachtzig Dörfer plus achtzehn Flecken plus vier Siedlungen plus zwei Bezirkskleinstädte plus drei Sowchosen, zwei getreide- und eine milchproduzierende, macht insgesamt einhundertsechzehn Ortschaften, einhundertsechzehn Hügel haben die Brenner aufgegraben … Während der Buchhalter Rosenberg die Grube für sich und die anderen Brenner ausschaufelt, rechnet er zusammen: Letzte Woche siebenhundertdreiundachtzig verbrannte Leichen, davor in drei Dekaden eine Summe von viertausendachthundertsechsundzwanzig verbrannten Leichen, das macht eine Gesamtsumme von fünftausendsechshundertundneun verbrannten Leichen. Er rechnet und rechnet, und dabei vergeht unmerklich die Zeit; er ermittelt die durchschnittliche Anzahl Figuren, nein, nicht Figuren, Anzahl von menschlichen Körpern – fünftausendsechshundertundneun geteilt durch die Zahl der Gräber, einhundertsechzehn – macht achtundvierzig Komma fünfunddreißig menschliche Körper im Massengrab; abgerundet ergibt das einen Schnitt von achtundvierzig Leichen pro Grab. Wenn man berücksichtigt, dass zwanzig Brenner siebenunddreißig Tage lang gearbeitet haben, dann kommen auf einen Brenner … »Antreten!«, schreit der Wachsoldat, und Scharführer Elf kommandiert mit kräftiger Stimme: »In die Grube, Marsch!« Aber er will nicht ins Grab. Er rennt, fällt hin, rennt wieder, rennt unbeholfen und langsam, der Buchhalter kann nicht rennen, doch sie haben ihn nicht umbringen können, und er liegt im Wald auf dem Gras, in der Stille, und denkt nicht an den Himmel über sich, auch nicht an Slatotschka, die sie ermordet haben, als sie im sechsten Monat schwanger war, er liegt da und rechnet aus, was er in der Grube nicht hatte zu Ende rechnen können: zwanzig Brenner, siebenunddreißig Tage, Brennertage insgesamt … das wäre das eine, zum Zweiten – wie viele Kubikmeter Brennholz pro Kopf, zum Dritten – wie viele Stunden Verbrennungsdauer pro Körper im Schnitt, wie viele …
Nach einer Woche griffen ihn Polizisten auf und brachten ihn ins Ghetto.
Und jetzt hier, im Waggon, murmelt er die ganze Zeit, rechnet, dividiert, multipliziert. Die Jahresabrechnung! Er muss sie Buchman, dem Hauptbuchhalter der Staatsbank, übergeben. Und plötzlich nachts, im Schlaf, steigen ihm heiße Tränen in die Augen, spülen den Schorf fort, der ihm Gehirn und Herz bedeckt hat.
»Slata! Slata!«, ruft er.
45
Das Fenster ihres Zimmers ging auf den Stacheldrahtzaun hinaus, der das Ghetto umgab. Eines Nachts erwachte die Bibliothekarin Mussja Borissowna, lüftete einen Zipfel ihres Vorhangs und sah, wie zwei Soldaten ein Maschinengewehr schleppten; auf seinem polierten Gehäuse blinkten blaue Flecken vom Mondlicht, die Brillengläser des vorangehenden Offiziers blitzten. Sie hörte leises Motorendröhnen. Die Fahrzeuge näherten sich dem Ghetto mit ausgeschalteten Scheinwerfern, und der schwere, nächtliche Staub, der sich um ihre Räder ballte, schimmerte silbern – sie schwebten, Gottheiten gleich, auf Wolken heran.
In diesen stillen, mondbeglänzten Minuten, als Unterabteilungen der SS und des SD, ukrainische Polizeieinheiten, Hilfstruppen und eine Autokolonne der Reserve der Reichssicherheitskontrolle auf die Tore des schlafenden Ghettos zurollten, ermaß die Frau das Verhängnis des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Mondlicht, die gemessene, erhabene Bewegung der bewaffneten Einheiten, die mächtigen schwarzen Lastwagen, das ängstliche Ticken der Pendeluhr an der Wand, die auf dem Stuhl erstarrten Kleider – Kopftuch, Leibchen und Strümpfe –, der warme Wohnungsgeruch, alles Unvereinbare fügte sich zusammen.
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Die Tochter des 1937 verhafteten und umgekommenen alten Doktor Karassik, Natascha, versuchte im
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