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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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– weiß ganz genau, dass ein Scharfschütze, wenn er hier auf seinem Platz säße, den Typ mit dem Papier umgelegt hätte, der Typ aber kommt unbehelligt durch. Und ich begreife, dass er von dort, wo er sich befindet, nicht den Soldaten sehen kann, den er getötet hat, und dass er ihn sich gern ansehen möchte. Dann Stille. Ein zweiter Deutscher kommt vorbei, mit einem Wassereimer — ich schieße immer noch nicht. Es vergehen noch sechzehn Minuten – da fängt er an, sich aufzurichten. Steht auf. Und auch ich steh in voller Größe auf …«
    Alles noch einmal erlebend, hatte Saizew sich vom Tisch erhoben; und jener besondere Ausdruck von Stärke, der vor kurzem über sein Gesicht gehuscht war, war jetzt zum einzig beherrschenden Gesichtsausdruck geworden. Das war nicht mehr der gutmütige, breitnasige Bursche – die geblähten Nüstern, die breite Stirn und die Augen, in denen die Begeisterung über einen furchtbaren Triumph brannte, hatten nun etwas Mächtiges, Löwenhaftes, Unheildrohendes angenommen.
    »Er kapiert, hat mich erkannt. Und ich schieße.«
    Einen Augenblick lang herrschte Stille. So still war es wahrscheinlich gestern nach dem kurzen Knall des Schusses gewesen; es war, als hörte man wieder den dumpfen Aufprall des menschlichen Körpers. Batjuk wandte sich plötzlich an Krymow und fragte: »Na, wie finden Sie das? Interessant?«
    »Gut gemacht«, sagte Krymow, nichts weiter.
    Er übernachtete bei Batjuk.
    Batjuk zählte, nur die Lippen bewegend, die Tropfen einer Herzmedizin in ein Schnapsglas und goss Wasser dazu.
    Gähnend erzählte er Krymow, was in der Divison alles passiert war; er sprach nicht über die Kämpfe, sondern über alle möglichen Vorkommnisse des täglichen Lebens.
    Krymow hatte den Eindruck, als stünde alles, was Batjuk sagte, in direktem Zusammenhang mit dem, was Batjuk selbst in den ersten Kriegsstunden widerfahren war; alle seine Gedanken waren von dieser Geschichte bestimmt.
    Seit seinen ersten Stalingrader Stunden hatte Krymow ein gewisses merkwürdiges Gefühl nicht loswerden können.
    Manchmal kam es ihm so vor, als sei er irgendwohin geraten, wo es keine Partei gab. Dann wieder schien ihm genau das Gegenteil der Fall zu sein, und es war ihm, als atme er die Luft der ersten Stunden der Revolution.
    Plötzlich fragte Krymow: »Sind Sie schon lange in der Partei, Genosse Oberstleutnant?«
    »Was soll das heißen, Genosse Bataillonskommissar? Haben Sie etwa den Eindruck, ich sei nicht linientreu?«
    Krymow antwortete nicht sofort.
    Dann sagte er zum Divisionskommandeur: »Wissen Sie, ich gelte als ganz guter Parteiredner und bin auf großen Arbeiterkundgebungen aufgetreten. Hier aber habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass nicht ich es bin, der lenkt, sondern dass ich gelenkt werde. Das ist seltsam. So hätte ich mich zum Beispiel gern in die Unterhaltung Ihrer Scharfschützen eingemischt und da einiges richtigstellen wollen. Aber dann habe ich mir überlegt, die Klugen zu belehren hieße, sie zu verderben. Doch wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich habe nicht nur deshalb geschwiegen. Die Politabteilung weist ihre Referenten an, den Soldaten bewusstzumachen, dass die Rote Armee eine Armee der Rächer ist. Ich aber komme hier an und will über Internationalismus und Klassengeist reden. Die Hauptsache ist doch, die Wut der Massen gegen die Feinde zu mobilisieren! So wäre es mir nur ergangen wie dem Dummkopf im Märchen – er ging auf eine Hochzeit und hielt eine Grabrede.«
    Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Ja, und die Gewohnheit … gewöhnlich mobilisiert die Partei den Zorn und die Wut der Massen gegen den Feind mit dem Ziel, ihn zu schlagen und zu vernichten. Der christliche Humanismus taugt nicht für unsere Sache. Unser sowjetischer Humanismus ist rau … Wir machen nicht lang Federlesen …«
    Wieder dachte er nach und sagte: »Natürlich spreche ich jetzt nicht von Fällen wie dem Ihren, als man Sie damals wegen nichts und wieder nichts erschießen wollte. Und auch siebenunddreißig ist es vorgekommen, dass man die eigenen Leute umgebracht hat: All das ist ein wahres Unglück für uns. Die Deutschen aber sind ins Vaterland der Arbeiter und Bauern einmarschiert, also, was soll’s? Krieg ist Krieg! Es geschieht ihnen ganz recht.«
    Krymow wartete auf eine Antwort von Batjuk, doch der schwieg, nicht etwa, weil er über Krymows Äußerungen bestürzt, sondern weil er eingeschlafen war.
    56
    In der Halle mit den Martinsöfen des Werks »Roter Oktober« liefen im

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