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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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er selbst am Krieg teilgenommen, selbst gekämpft hat; der hat gewusst, über wen er schreiben musste.«
    »Entschuldigen Sie, Genosse General«, sagte Krymow, »Tolstoi hat nicht am Vaterländischen Krieg teilgenommen.«
    »Was soll das heißen, wie soll er denn nicht teilgenommen haben?«, fragte der General.
    »Ganz einfach, er hat nicht teilgenommen«, erwiderte Krymow. »Tolstoi war noch nicht einmal geboren, als der Krieg gegen Napoleon stattfand.«
    »War noch nicht geboren?«, fragte Gurjew zurück. »Wie denn das, war noch nicht geboren? Wer hat es dann für ihn geschrieben, wenn er noch nicht geboren war? Ha? Was meinen Sie?«
    Plötzlich entbrannte ein wütender Streit zwischen ihnen. Dies war der erste Streit, der nach einem Referat von Krymow ausbrach. Zu dessen Verwunderung endete er damit, dass es ihm nicht gelang, den Gesprächspartner von seinen Argumenten zu überzeugen.
    57
    Am folgenden Tag kam Krymow in die Fabrik »Barrikaden«, wo die Sibirische Schützendivision von Oberst Gurtjew lag.
    Von Tag zu Tag zweifelte er stärker daran, ob denn seine Referate überhaupt nötig waren. Manchmal schien es ihm, als höre man ihm nur aus Höflichkeit zu, so wie Ungläubige einem alten Geistlichen zuhören. Zugegeben, man war über sein Kommen erfreut, doch er verstand, dass man sich über seinen Besuch freute und nicht über seine Reden. Er war nun einer jener Mitarbeiter der Politabteilung in der Armee, die sich mit Papierkrieg beschäftigten, herumlungerten und die aktiv Kämpfenden störten. Nur diejenigen Mitarbeiter für politische Bildungsarbeit wurden akzeptiert, die nicht fragten, nicht aufklärten, keine langen Rechenschaftsberichte und Meldungen schrieben und keine Agitation betrieben, sondern einfach kämpften.
    Er erinnerte sich an seine Universitätsvorlesungen über den Marxismus-Leninismus vor dem Krieg; sowohl er wie auch seine Hörer hatten sich tödlich gelangweilt, als sie den »Kurzen Lehrgang der Parteigeschichte« wie den Katechismus durchnahmen.
    Damals, im Frieden, war diese Langeweile unumgänglich gewesen wie ein Gesetz, hier jedoch, in Stalingrad, wurde sie zum blanken Unsinn. Was sollte das alles?
    Krymow traf sich mit Gurtjew am Eingang zum Stabsunterstand; in dem hageren Mann, der mit einem knappen, seiner Größe nicht entsprechenden Soldatenmantel bekleidet war und wasserdichte Stiefel trug, erkannte er nicht sogleich den Divisionskommandeur.
    Krymows Referat fand in dem weiträumigen, niedrig gebauten Unterstand statt. Während seines ganzen Aufenthalts in Stalingrad hatte Krymow noch nie ein solches Artilleriefeuer gehört wie diesmal. Man musste dauernd schreien.
    Der Divisionskommissar Swirin, ein Mann, der laut und gewandt Reden halten konnte, die sich durch ihren Reichtum an Humor und scharfsinnigen Bemerkungen auszeichneten, sagte vor Beginn des Referats: »Weshalb sollten wir hier die Zuhörerschaft auf die oberen Kommandeurkader beschränken? Also, meine Herren Topografen, freie Soldaten der Wachkompanie, nicht diensttuende Funker und Melder, ich lade Sie ein zu dem Referat über die internationale Lage! Nach dem Referat gibt’s einen Film und danach Tanz bis zum Morgengrauen.« Er zwinkerte Krymow zu, als wolle er sagen: »Na denn, dann haben wir heute noch eine Veranstaltung außer der Reihe, damit Sie auf Ihre und wir auf unsere Kosten kommen.«
    An der Art, wie Gurtjew lächelnd den lärmenden Swirin ansah und wie Swirin wiederum Gurtjew den Mantel zurechtzupfte, den dieser sich um die Schultern gehängt hatte, spürte Krymow den freundschaftlichen Geist, der in diesem Unterstand herrschte.
    Und aus der Art, wie Swirin, die ohnehin schon schmalen Augen zukneifend, den Stabschef Sawrassow anblickte und wie dieser unwillig, mit unzufriedener Miene, einen ärgerlichen Blick zu Swirin hinüberwarf, schloss Krymow, dass nicht nur der Geist der Freundschaft und Kameradschaft in diesem Unterstand herrschte.
    Sofort nach dem Referat verließen der Divisionskommandeur und der Divisionskommissar auf den dringenden Anruf des Armeeoberbefehlshabers hin den Unterstand. Krymow unterhielt sich mit Sawrassow, einem Mann von sichtlich schwierigem und heftigem Charakter, ehrgeizig und leicht beleidigt. Vieles an ihm – der Ehrgeiz, die Heftigkeit, der spöttische Zynismus, mit dem er über andere sprach – war abstoßend.
    Sawrassow stimmte, zu Krymow gewandt, einen Monolog an: »In Stalingrad kommst du in irgendein Regiment und weißt – der Stärkste und Entschlossenste im

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