Leben und Schicksal
da, aber in einer Minute würde es sie vielleicht schon nicht mehr geben.
Der Regimentskommandeur hatte den Kopf geschüttelt und bekümmert ausgerufen: »Wie kann man nur solche Kinder in den Krieg schicken?«
Dann hatte er gesagt:
»Keine Angst, meine Kleine, wenn irgendwas nicht so ist, wie es sein soll, teilen Sie es mir direkt über den Sender mit.«
Er hatte das mit so gütiger, väterlicher Stimme gesagt, dass Katja nur mühsam die Tränen unterdrücken konnte.
Dann hatte sie ein anderer Verbindungsmann in den Bataillonsstab gebracht. Dort spielte das Koffergrammofon, und der rothaarige Bataillonskommandeur hatte Katja zum Trinken eingeladen und sie aufgefordert, zur »Chinesischen Serenade« mit ihm zu tanzen.
Aber im Bataillon war die Atmosphäre äußerst beklemmend gewesen, und Katja hatte den Verdacht, dass der Bataillonskommandeur nicht zum Spaß trank, sondern um das unerträgliche Grauen zu betäuben und zu vergessen, dass er zerbrechlich wie Glas war.
Und nun saß sie auf einem Ziegelhaufen im Haus »sechs Strich eins«, und aus unerfindlichen Gründen hatte sie keine Angst mehr, sie dachte an ihr Leben vor dem Krieg, das ihr in der Erinnerung märchenhaft schön erschien.
Die Männer in dem eingekesselten Haus waren besonders sicher und stark; diese Sicherheit wirkte beruhigend. Die gleiche überzeugende Sicherheit fand man auch bei berühmten Ärzten, verdienten Arbeitern in Walzwerken, Zuschneidern, die kostbare Stoffe in Stücke schnitten, Feuerwehrleuten und alten Lehrern, die etwas an der Tafel erklärten.
Vor dem Krieg hatte Katja die Vorstellung, dass ihr ein unglückliches Leben bestimmt sei. Vor dem Krieg hatte sie ihre Freundinnen und Bekannten, die mit dem Omnibus fuhren, für Verschwender gehalten. Die Leute, die aus irgendwelchen schäbigen Restaurants herauskamen, waren in ihren Augen außergewöhnliche Geschöpfe; manchmal folgte sie einer solchen Gesellschaft, die gerade aus dem »Darjal« oder »Terek« herauspolterte, und belauschte ihre Gespräche. Einmal kam sie von der Schule nach Hause und erklärte feierlich ihrer Mutter: »Weißt du, was heute los war? Ein Mädchen hat mir Sprudel mit Sirup spendiert, mit echtem, der nach echten schwarzen Johannisbeeren schmeckte!«
Es war ihnen nicht leichtgefallen, von dem, was von Mutters Gehalt von vierhundert Rubeln nach Abzug der Einkommen- und Kultursteuer und der Staatsanleihe übrig blieb, einen Haushalt zu führen. Sie kauften keine neuen Kleider, sondern änderten die alten; an der Bezahlung der Hausbesorgerin, die in der Wohnung die gemeinsam benutzten Räume putzte, beteiligten sie sich nicht, sondern Katja wischte die Böden und leerte den Mülleimer, wenn sie mit dem Reinemachen an der Reihe waren; die Milch holten sie nicht bei den Milchfrauen, sondern im staatlichen Laden, wo man in sehr langen Schlangen anstehen musste, doch so sparten sie etwa sechs Rubel im Monat; wenn es dort keine Milch gab, ging Katjas Mutter abends auf den Markt – dort gaben die Milchfrauen, die es eilig hatten, ihren Zug zu erreichen, die Milch billiger ab als am Morgen, fast genauso billig wie im staatlichen Laden. Mit dem Omnibus fuhren sie nie, das war zu teuer; die Straßenbahn nahmen sie nur, wenn sie eine große Entfernung zurücklegen mussten. Zum Friseur ging Katja nicht, die Mutter schnitt ihr die Haare. Natürlich wuschen sie ihre Wäsche selbst; die Glühbirnen leuchteten trübe, kaum heller als die, die in den Gemeinschaftsräumen brannten. Das Mittagessen kochten sie für drei Tage. Es bestand aus Suppe, manchmal aus Grütze mit Speiseöl; einmal hatte Katja drei Teller Suppe gegessen und gesagt: »Siehst du, heute gab es bei uns drei Gänge zum Mittagessen.«
Die Mutter dachte nicht daran zurück, wie sie gelebt hatten, als der Vater noch da war, und Katja hatte keine Erinnerung mehr an diese Zeit. Nur Vera Dmitrijewna, Mamas Freundin, sagte manchmal, wenn sie zusah, wie Mutter und Tochter eine Mahlzeit bereiteten: »Ja, einst waren auch wir edle Pferde…« 33 Doch die Mutter schien verärgert, und Vera Dmitrijewna ließ sich nicht weiter über jene Zeit aus, als Katja und ihre Mutter »edle Pferde« gewesen waren.
Einmal hatte Katja im Schrank eine Fotografie ihres Vaters gefunden. Sie sah zum ersten Mal sein Gesicht, und doch begriff sie sofort, dass es ihr Vater war. Auf der Rückseite der Fotografie stand: »Für Lida – ich bin vom Stamme jener Asra, welche sterben, wenn sielieben; 34 in Liebe entbrannt, sterben wir
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