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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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schweigend.« Sie hatte der Mutter nichts gesagt, doch wenn sie aus der Schule kam, holte sie die Fotografie heraus und betrachtete lange die dunklen und, wie sie fand, traurigen Augen ihres Vaters.
    Eines Tages hatte sie gefragt: »Wo ist Papa jetzt?«
    Die Mutter hatte gesagt: »Weiß nicht.«
    Als Katja in die Armee einrückte, hatte die Mutter zum ersten Mal mit ihr über den Vater gesprochen, und Katja erfuhr, dass der Vater 1937 verhaftet worden war, erfuhr die Geschichte seiner zweiten Heirat.
    Sie taten die ganze Nacht kein Auge zu, sondern redeten nur. Und alles geriet durcheinander. Die Mutter, gewöhnlich sehr zurückhaltend, sprach mit der Tochter darüber, wie ihr Mann sie verlassen hatte, sprach von ihrer Eifersucht, ihrer Erniedrigung, ihrer Kränkung, ihrer Liebe, ihrem Mitleid. Zu Katjas Verwunderung erwies sich die Welt der menschlichen Seele als so unermesslich weit, dass selbst der rings um sie wütende Krieg davor verblasste. Am Morgen hatten sie Abschied voneinander genommen. Die Mutter hatte Katjas Kopf an sich gedrückt, und der Rucksack hatte Katjas Schultern nach unten gezogen. Katja hatte gesagt: »Mamotschka, auch ich bin vom Stamme der armen Asra – in Liebe entbrannt, sterben wir schweigend.«
    Dann hatte die Mutter sie leicht gegen die Schulter geboxt: »Es ist Zeit, Katja, geh!«
    Und Katja ging, wie in dieser Zeit Millionen junger und älterer Menschen gingen, aus dem Haus der Mutter, um vielleicht niemals wieder oder auch als eine andere zurückzukehren, für immer getrennt von der Zeit ihrer entbehrungsreichen und doch so behüteten Kindheit.
    Da saß sie jetzt neben dem Herrn des Stalingrader Hauses, Grekow, und betrachtete seinen großen Kopf und sein finsteres Gesicht mit den leicht aufgeworfenen Lippen.
    59
    Am ersten Tag funktionierte ausnahmsweise die Fernsprechverbindung.
    Die Untätigkeit im Haus »sechs Strich eins« und das Gefühl, völlig vom Leben ausgeschlossen zu sein, lasteten schwer auf der jungen Funkerin.
    Doch auch an diesem ersten Tag im Haus »sechs Strich eins« geschah bereits vieles, was dazu beitrug, sie dem Leben, das ihr bevorstand, näherzubringen.
    Sie erfuhr, dass in den Trümmern des ersten Stocks Beobachter der Artillerie saßen, die den Verbänden jenseits der Wolga Daten übermittelten, dass der Ranghöchste im ersten Stock ein Leutnant im schmutzigen Feldhemd war, dem ständig die Brille von seiner Himmelfahrtsnase rutschte.
    Sie verstand, dass der reizbare Alte, der so gerne deftige Kraftausdrücke gebrauchte, aus der Landwehr hierhergeraten und stolz auf seinen Rang als Kommandeur einer Granatwerfer- Bedienungsmannschaft war. Zwischen der hohen Wand und dem Schutthaufen hatten sich die Pioniere eingerichtet; dort herrschte ein fülliger Mann, der beim Gehen ächzte und das Gesicht verzog, als litte er an Hühneraugen.
    Die einzige Kanone im Haus bediente ein glatzköpfiger Mann im Matrosenhemd. Er hieß mit Familiennamen Kolomeizew. Katja hörte, wie Grekow schrie: »He, Kolomeizew, was seh ich? Du hast wieder ein Weltklasseziel verschlafen.«
    Die Infanterie und die Maschinengewehre befehligte ein Unterleutnant mit blondem Bart. Sein Gesicht wirkte durch den Bart besonders jung, der Leutnant aber glaubte wahrscheinlich, dass ihm der Bart das Aussehen eines dreißigjährigen, gereiften Mannes verlieh.
    Mittags gab man ihr zu essen: Brot und Hammelwurst. Dann erinnerte sie sich, dass sie in der Tasche ihrer Feldbluse noch ein Bonbon hatte, und steckte es sich unbemerkt in den Mund. Nach dem Essen wurde sie sehr schläfrig, obwohl ganz in der Nähe geschossen wurde. Sie schlief ein; im Schlaf lutschte sie an ihrem Bonbon weiter, und auch die bange Ahnung eines nahenden Unheils fiel im Schlaf nicht von ihr ab. Plötzlich klang ein getragener Singsang an ihr Ohr. Ohne die Augen zu öffnen, lauschte sie den Worten:
    »… doch wird, wie Wein, der Schmerz, den ich erfahren,
    nur stärker noch und schwerer mit den Jahren…« 35
    Im steinernen Lichtschacht, der von abendlichem, ätherischem Bernstein erleuchtet wurde, stand ein struppiger, schmutziger Junge und hielt ein Büchlein vor sich in der Hand. Auf den roten Ziegeln saßen fünf oder sechs Männer. Grekow lag auf einem Soldatenmantel und hatte das Kinn auf die Fäuste gestützt. Ein Bursche, der aussah wie ein Georgier, hörte misstrauisch zu, so als wolle er sagen: »Nein, mich kaufst du nicht mit solchem Blödsinn, hör auf.«
    Von einer nahen Explosion ausgelöst, erhob sich eine Wolke von

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