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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und dem Leiter der Politabteilung der Armee Meldung über den moralisch-politischen Missklang.
    In der Armee nahm man die Aussagen des Politruks noch ernster als in der Division. Der Divisionskommissar erhielt die Weisung, sich unverzüglich der Angelegenheit mit dem eingeschlossenen Haus anzunehmen. Der Leiter der Politabteilung der Armee, ein Brigadekommissar, schrieb einen dringenden Bericht an den Leiter der Politabteilung der Front, einen Divisionskommissar.
    Die Funkerin Katja Wengrowa kam nachts in das Haus »sechs Strich eins«. Am Morgen stellte sie sich dem »Hausoberhaupt« Grekow vor; der nahm die Meldung des Mädchens entgegen und sah ihr dabei in die verwirrten, ängstlichen und zugleich schelmischen Augen.
    Sie hatte einen großen Mund mit blutleeren Lippen. Grekow wartete einige Sekunden ab, bevor er auf ihre Frage »Darf ich gehen?« antwortete.
    In diesen Sekunden gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die mit dem Krieg nichts zu tun hatten: »Nichts zu sagen, ein hübsches Mädchen … schöne Beine … sie hat Angst … offensichtlich Mamas Liebling. Wie alt mag sie sein, höchstens achtzehn. Dass sich meine Jungs nur nicht an sie ranmachen.«
    Alle diese Überlegungen mündeten überraschend in den Gedanken: »Wer ist denn hier der Herr im Haus? Wer hat denn hier die Deutschen zur Weißglut gebracht?«
    Dann antwortete er auf ihre Frage.
    »Wo wollen Sie denn hin, Fräulein? Bleiben Sie neben Ihrem Apparat. Wir werden uns was ausdenken.«
    Er tippte mit dem Finger auf das Funkgerät und schielte zum Himmel hinauf, an dem deutsche Bomber heulten.
    »Sind Sie aus Moskau, Fräulein?«, fragte er.
    »Ja«, erwiderte sie.
    »Setzen Sie sich. Hier bei uns geht alles ganz einfach zu, wie auf dem Land.«
    Die Funkerin trat zur Seite, die Ziegelbrocken knirschten unter ihren Stiefeln, die Sonne schien auf die Maschinengewehrmündungen und auf das schwarze Gehänge von Grekows erbeuteter Pistole. Sie setzte sich und betrachtete die Soldatenmäntel, die vor der zerstörten Wand auf einen Haufen geworfen waren. Einen Augenblick lang fand sie es seltsam, dass dieses Bild schon nichts Erstaunliches mehr für sie hatte. Sie wusste, dass die Maschinengewehre, die aus den Mauerbreschen ragten, vom System Degtjarew waren, wusste, dass im Patronenrahmen der erbeuteten »Walters« acht Patronen saßen, dass die »Walters« stark durchschlug, dass man aber schlecht mit ihr zielen konnte, wusste, dass die in der Ecke zusammengeworfenen Mäntel den Gefallenen gehört hatten und dass die Gefallenen nicht sehr tief begraben waren – der Brandgeruch mischte sich mit einem anderen Geruch, an den sie sich auch schon gewöhnt hatte. Und auch das Funkgerät, das sie diese Nacht bekommen hatte, glich dem, mit dem sie vor Kotluban gearbeitet hatte – die gleiche Empfangsskala, der gleiche Wellenschalter. Sie erinnerte sich daran, wie sie eines Tages, mitten in der Steppe, die staubige Scheibe des Amperemeters als Spiegel benutzt und ihre unter der Feldmütze hervorgerutschten Haare in Ordnung gebracht hatte.
    Niemand sagte etwas zu ihr; es war, als ginge das stürmische, schreckliche Leben des Hauses an ihr vorüber.
    Doch als ein grauhaariger Mann – aus der Unterhaltung hatte sie entnommen, dass er Granatwerferschütze war – einen hässlichen Fluch ausstieß, sagte Grekow: »Alter, was soll denn das? Hier sitzt doch unser Fräulein. Einen anständigeren Ton bitte!«
    Katja lief es kalt den Rücken hinunter, aber nicht wegen der Flüche des Alten, sondern wegen des Blicks, den Grekow ihr dabei zuwarf.
    Obwohl niemand mit ihr sprach, spürte sie, dass ihr Erscheinen in dem Haus einigen Aufruhr verursachte. Es war, als fühlte sie unter ihrer Haut die Spannung, die um sie herum entstanden war und die sogar anhielt, als die Sturzkampfflugzeuge aufheulten, Bomben ganz in der Nähe einschlugen und Ziegelbrocken auf sie herunterprasselten.
    Sie hatte sich ja schließlich schon ein wenig an die Bombardierungen und an das Pfeifen der Splitter gewöhnt und verlor nicht mehr so schnell den Kopf. Aber die aufmerksamen Blicke der Männer, die sie schwer auf sich lasten fühlte, verwirrten sie immer noch.
    Am Abend des Vortages hatten die Funkerinnen sie bedauert und gesagt: »Ach, angst und bange wird dir dort sein.«
    Nachts hatte sie dann ein Verbindungsmann in den Regimentsstab geführt. Dort spürte man bereits deutlich die Nähe der Front, die Zerbrechlichkeit des Lebens. Die Menschen wirkten zerbrechlich – jetzt waren sie noch

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