Leben und Schicksal
Ziegelstaub; es schien, als stiege wie im Märchen Nebel auf; die Männer auf den blutroten Ziegelhaufen und ihre Waffen im roten Nebel ließen an jenen schrecklichen Tag denken, von dem das »Lied von der HeerfahrtIgors« 36 berichtet. Und plötzlich überkam das Mädchen die absurde Gewissheit, dass ihr Glück nahe sei.
Am zweiten Tag geschah etwas, was die doch an vieles gewöhnten Hausbewohner zutiefst aufrührte.
Der verantwortliche Hauptmieter des ersten Stocks war Leutnant Batrakow. Ihm zur Seite standen ein Rechner und ein Beobachter. Katja sah sie mehrmals am Tag – den mürrischen Lampassow, den schlauen und zugleich einfältigen Buntschuk und den sonderbaren, dauernd in sich hineinlächelnden, bebrillten Leutnant.
Wenn gerade einmal Stille herrschte, waren ihre Stimmen durch eine Spalte in der Decke zu hören.
Lampassow hatte vor dem Krieg etwas mit Geflügelzucht zu tun gehabt und unterhielt sich mit Buntschuk über die Intelligenz und das treulose Verhalten von Hühnern. Buntschuk meldete, hinter das Scherenfernrohr geklemmt, in gedehntem, singendem Ukrainisch seine Beobachtungen: »Jetzt seh ich, von Kalatsch her kommt eine Autokolonne Fritzen … jetzt ein mittelschwerer Panzer … jetzt Fritzen zu Fuß, ungefähr ein Bataillon … An drei Stellen rauchen, wie gestern, Feldküchen. Die Fritzen kommen mit Kochgeschirr an …« Einige Beobachtungen hatten keine strategische Bedeutung, sondern waren nur von allgemeinem Interesse. Dann sang er: »Jetzt seh ich … ein Kommandeursfritz geht mit seinem Hund spazieren, der Hund schnuppert an einem Pfahl, will pinkeln, so ist es, wahrscheinlich eine Hündin, der Offizier steht da und wartet; jetzt seh ich zwei Mädchen, Städterinnen, sie schwatzen mit den Soldatenfritzen, lachen, ein Soldat zieht Zigaretten heraus, das eine Mädchen nimmt eine, pafft Rauch in die Luft, die andere schüttelt den Kopf, wahrscheinlich sagt sie: ›Ich bin Nichtraucherin‹ …«
Auf einmal meldete Buntschuk mit der gleichen, singenden Stimme: »Jetzt seh ich … auf dem Platz ist Infanterie angetreten … ein Orchester steht da … mitten auf dem Platz steht irgendeine Tribüne … nein, da sind Holzscheite aufgestapelt …« Dann sagte er lange nichts, darauf rief er mit verzweifelter, aber immer noch singender Stimme aus: »Oi, Genosse Leutnant, jetzt seh ich … sie führen eine Frau im Hemd an, die schreit irgendwas … das Orchester spielt … Sie binden die Frau an einen Pfahl, oi, Genosse Leutnant, neben ihr seh ich einen kleinen Jungen, den binden sie auch an … Genosse Leutnant, wenn meine Augen das nur nicht gesehen hätten, zwei Fritzen schütten Benzin aus einem Kanister …«
Batrakow gab die Vorgänge telefonisch an die Truppe jenseits der Wolga weiter. Er klemmte sich hinter das Scherenfernrohr und brach, in seinem Kalugaer Dialekt die Stimme Buntschuks nachahmend, in Wehklagen aus: »Oi, Jungs, ich seh, alles ist voll Rauch, und das Orchester spielt …«
»Feuer!«, brüllte er, an die Kameraden jenseits der Wolga gerichtet, mit schrecklicher Stimme.
Doch jenseits der Wolga blieb es still.
Ein paar Minuten später jedoch lag der Hinrichtungsplatz unter konzentriertem Beschuss schwerer Artillerie. Rauch- und Staubwolken hüllten den Platz ein.
Einige Stunden darauf wurde durch den Späher Klimow bekannt, dass die Deutschen vorgehabt hatten, eine Zigeunerin und einen Zigeunerjungen, die der Spionage verdächtigt wurden, zu verbrennen. Am Vortag hatte Klimow einer alten Frau, die mit ihrer Enkelin und ihrer Ziege in einem Erdbunker wohnte, etwas schmutzige Wäsche und Fußlappen dagelassen und versprochen, am nächsten Tag die gewaschene Wäsche wieder abzuholen. Von der Alten wollte er nun etwas über die Zigeunerin und den Zigeunerjungen erfahren – ob sie von den sowjetischen Granaten getötet oder ob sie tatsächlich auf dem deutschen Scheiterhaufen verbrannt seien. Klimow schlängelte sich auf nur ihm allein bekannten Pfaden durch die Trümmer, doch auf die Stelle, wo die Erdbunker gewesen waren, hatte ein sowjetischer Nachtbomber eine schwere Bombe abgeworfen – weder die Großmutter noch die Enkelin, noch die Ziege, noch Klimows Hemden und Unterhosen gab es mehr. Zwischen den zersplitterten Balken und Verputzscherben entdeckte er nur ein schmutziges Kätzchen. Das Kätzchen war in einem kläglichen Zustand, es bat um nichts und klagte über nichts, in der Meinung, dass dies – Getöse, Hunger, Feuer – eben das Leben auf Erden sei.
Klimow
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