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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Stimme: Nur mit solch einer Stimme konnte man Flüchtende aufhalten und zum Angriff anfeuern. Und er fluchte für sein Leben gern.
    Lange Erklärungen mochte er nicht – er befahl einfach. Er war ein Kamerad, bereit, einem Soldaten aus seinem Napf Lagersuppe abzugeben. Doch er war schon wirklich sehr grob.
    Die Leute spürten immer seinen Willen. Bei der Arbeit gab er den Ton an; er schrie, und niemand verweigerte den Gehorsam.
    Man konnte ihm nichts weismachen, das ließ er gar nicht zu. Mit ihm konnte man etwas anfangen – doch er war eben sehr grob.
    Kirillow – der war klüger, hatte jedoch etwas Labiles an sich. Er bemerkte jede Kleinigkeit und blickte alle mit müden, halbgeschlossenen Augen an. Gleichgültig war er, mochte die Menschen nicht, doch er verzieh ihnen Schwäche und Gemeinheit. Den Tod fürchtete er nicht, hatte sogar zuweilen Sehnsucht nach ihm.
    Über den Rückzug äußerte er sich allerdings scharfsinniger als alle Kommandeure. Er, ein Parteiloser, hatte einmal gesagt: »Ich glaube nicht, dass die Kommunisten die Menschen besser machen können. Das hat es in der ganzen Geschichte noch nicht gegeben.«
    Er tat so, als sei ihm alles gleich, doch nachts weinte er auf seiner Pritsche; auf Jerschows Frage hatte er lange geschwiegen und dann leise geantwortet: »Ich weine um Russland.« Aber er hatte auch etwas Weiches an sich. Einmal hatte er gesagt: »Ach, was sehne ich mich nach Musik!« Und gestern hatte er mit einem seltsamen Lächeln gesagt: »Jerschow, hören Sie mal zu, ich lese Ihnen ein paar Verszeilen vor.« Jerschow mochte eigentlich keine Gedichte, doch dieses behielt er. Es setzte sich in seinem Gedächtnis fest:
    »Mein Kamerad, in deinem Todeskampf
    ruf keinen Menschen dir zu Hilfe.
    Lass mich lieber die Hände wärmen,
    Über dem Dampfe deines Bluts.
    Und wein nicht, wie ein Kind, vor Angst!
    Du bist nicht verwundet, bist nur tot.
    Lieber nehm ich dir deine Filzstiefel ab,
    denn morgen muss ich wieder kämpfen.«
    Hatte er das etwa selbst geschrieben?
    Nein, nein, Kirillow eignete sich nicht für den Stab. Wie wollte er andere Menschen bei der Stange halten, wenn er sich selbst kaum aufrecht hielt!
    Da war Mostowskoi! Er verfügte sowohl über eine breite Bildung, über die man nur staunen konnte, als auch über einen eisernen Willen. Es hieß, dass er bei Verhören unbeugsam blieb.
    Doch wie merkwürdig – es gab keinen, an dem Jerschow nicht Irgendetwas auszusetzen hatte.
    Neulich hatte er Mostowskoi vorgeworfen: »Michail Sidorowitsch, weshalb lassen Sie sich nur mit diesem Gesindel auf Gespräche ein, mit diesem verrückten Ikonnikow-Morsch und diesem einäugigen Emigranten da?«
    Mostowskoi hatte ironisch gesagt: »Sie glauben wohl, ich sei wankelmütig und würde vielleicht noch Evangelist oder gar Menschewik werden?«
    »Weiß der Teufel, was für Typen das sind«, hatte Jerschow erwidert. »Fass keine Scheiße an, dann stinkst du nicht. Dieser Morsch hat in unseren Lagern gesessen. Jetzt schleppen ihn die Deutschen zum Verhör. Sich selbst wird er verkaufen und Sie und die, die sich bei Ihnen einschmeicheln.«
    Aus alldem ergab sich folgender Schluss – für die Untergrundarbeit gab es keine idealen Leute. Bei jedem musste man Stärken und Schwächen gegeneinander abwägen. Das war nicht schwer. Doch nur aus der gründlichen Kenntnis eines Menschen heraus konnte man entscheiden, ob er zu etwas taugte oder nicht. Diesen Wesensgrund ermessen, das konnte man nicht. Den konnte man nur erahnen und erfühlen. So begann er also bei Mostowskoi.
    74
    Schwer atmend kam Generalmajor Guds zu Mostowskoi. Er schlurfte, ächzte, schob die Unterlippe vor, die braunen Hautfalten an seinem Hals und auf seinen Wangen flatterten – alle diese Bewegungen und Gesten aus der Zeit seiner gewaltigen Körperfülle hatte er beibehalten; all dies wirkte bei seiner jetzigen Hinfälligkeit eher komisch.
    »Lieber Vater«, sagte er zu Mostowskoi, »wenn ich, ein Grünschnabel, an Ihnen Kritik üben wollte, wäre es das Gleiche, als wollte ein Major einen Generalobersten belehren. Ich sag’s dennoch ganz offen: Es war unbesonnen von Ihnen, mit diesem Jerschow einen Bruderschaftspakt zwischen den Völkern zu schließen – er ist ein völlig undurchschaubarer Mensch. Ohne militärische Kenntnisse. Obwohl er auf dem geistigen Niveau eines Leutnants steht, will er hoch hinaus, will selbst kommandieren und maßt sich an, einen Obersten zu belehren. Man muss ihm gegenüber vorsichtig sein.«
    »Sie faseln

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