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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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– Befehl der Partei, Befehl Stalins unter außergewöhnlichen Bedingungen. Doch wir werden mit diesem Ihrem Patenkind, dem Meister der Gedanken, arbeiten; wir haben es beschlossen und werden es auch tun. Wichtig ist nur eins: dass wir Realisten und Dialektiker bleiben. Aber es steht uns ja nicht an, Sie zu belehren.«
    Mostowskoi schwieg. Ossipow umarmte ihn und küsste ihn dreimal auf die Lippen. In seinen Augen glitzerten Tränen.
    »Ich küsse Sie wie meinen eigenen Vater«, sagte er. »Ich würde Sie gerne bekreuzigen, wie mich meine Mutter bekreuzigt hat, als ich Kind war.«
    Und Michail Sidorowitsch spürte, wie sich das unerträglich quälende Gefühl, dessen Ursache die Vertracktheit des Lebens war, verflüchtigte. Wie in seiner Jugend erschien ihm die Welt wieder klar und einfach; sie gliederte sich auf in Freunde und Feinde, Eigene und Fremde.
    In der Nacht kamen SS-Leute in die Sonderbaracke und führten sechs Personen ab. Unter ihnen war Michail Sidorowitsch Mostowskoi.

ZWEITER TEIL

1
    Wer im Hinterland einen Truppentransport an die Front beobachtet, wird von freudiger Erwartung erfüllt: Ihm scheint, als handle es sich beim Defilee dieser Geschütze, dieser frisch lackierten Panzer um den kriegsentscheidenden Aufmarsch.
    Auch die Soldaten, die mit dem Transport aus der Reserve an die Front gehen, sind freudig erregt, und ihre jungen Kommandeure träumen von Stalin’schen Befehlen in versiegelten Umschlägen … Wer mehr Erfahrung hat, dem kommen natürlich keine solchen Flausen in den Kopf, er trinkt in aller Ruhe seinen Tee, klopft sich seinen Dörrfisch am Tisch oder an der Schuhsohle weich, erörtert das Privatleben des Majors und die voraussichtlichen Tauschmöglichkeiten beim nächsten Zwischenaufenthalt. Er weiß genau, was ihn erwartet: Die Einheit wird im Frontgebiet ausgeladen, an einem ganz entlegenen Punkt, den nur die deutschen Sturzbomber kennen, und beim ersten Bombenangriff werden die Neulinge ihre Festtagsstimmung gründlich verlieren … Kerle, die auf dem Transport vor lauter Schlaf ganz aufgequollen sind, müssen nun tagelang ohne Schlaf auskommen, tagelang dahinmarschieren ohne Essen oder Trinken, in ihren Schläfen dröhnt es vom ununterbrochenen Heulen der überhitzten Motoren; die Hände am Schalthebel versagen schon fast den Dienst, und der Kommandeur wird über Funk und Radio mit Befehlen, Beschwörungen und Flüchen überhäuft: »In der Front ist ein Loch – sofort stopfen!« – Kein Mensch interessiert sich hier mehr dafür, wie die neue Einheit beim Schießlehrgang abgeschnitten, welche Trefferquote die Einzelnen erzielt haben. »Los, los, los, vorwärts«, nur dieser eine Befehl schallt in den Ohren des Kommandeurs, und so peitscht er seine Leute gnadenlos vorwärts. Dann kann es passieren, dass die Einheit, noch ohne das Gelände erkundet zu haben, plötzlich im Gefecht steht, und eine müde, nervöse Stimme bellt: »Sofort Gegenangriff; da an diesen Höhen entlang, dort sind wir total blank, die rotzen uns dort voll, da geht alles zum Teufel …«
    Fahrern, Funkern und Grenadieren dröhnt der Kopf von der tagelangen Fahrt im Panzer, vom Heulen der deutschen Sturzbomber und dem Geprassel explodierender Minen.
    Die Sinnlosigkeit des Krieges wird hier besonders deutlich Eine Stunde Kampf – und von all dieser ungeheuerlichen Anstrengung bleibt nichts weiter als die schwelenden Trümmer verkohlter, geborstener Panzer mit verbogenen Geschützen und zerfetzten Ketten.
    Wo sind sie geblieben, die Monate schlaflosen Lernens, selbstlosen, geduldigen Einsatzes von Ingenieuren, Stahlarbeitern und Elektrikern …
    Der Truppenführer aber schickt, um die unbedachte Hast zu vertuschen, mit der er die frisch aus der Etappe kommende Einheit in den Kampf geworfen und nahezu sinnlos geopfert hat, den in solchen Fällen üblichen Bericht nach oben: »Der sofortige Einsatz der Reserveeinheit hat den Vormarsch des Feindes vorübergehend gestoppt und eine Umgruppierung der mir anvertrauten Truppen ermöglicht.«
    Hätte er seine Leute nicht so gehetzt, hätte er ihnen Zeit für die Erkundung des Geländes gelassen, anstatt sie auf ein Minenfeld zu treiben, dann wären die Panzer, wenn sie auch vielleicht nichts Entscheidendes vermocht hätten, doch wenigstens zum Einsatz gekommen, hätten den Deutschen Verluste beibringen und ein Hindernis für sie sein können.
    Nowikows Panzereinheit rückte zur Front vor.
    Die jungen, naiven Panzergrenadiere, die ihre Feuertaufe noch nicht erhalten

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