Leben und Schicksal
hatten, träumten von der Entscheidungsschlacht, an der sie teilnehmen würden, und wurden von den erfahrenen Frontkämpfern ausgelacht. Der Kommandeur der ersten Brigade, Makarow, und der beste Korpskommandeur des Panzerbataillons, Fatow, wussten, wie der Hase läuft, sie hatten es mehr als einmal erlebt.
Skeptiker und Pessimisten sind Realisten, Männer der bitteren Erfahrung, die sich ihr Wissen um den Krieg in blutigen, qualvollen Einsätzen erkämpft haben. Dieses Wissen macht sie den Milchbärten und Grünschnäbeln überlegen, doch diesmal sollten sie ihre bitteren Erfahrungen trügen. Den Panzern des Obersten Nowikow war es nämlich tatsächlich bestimmt, an einer Schlacht teilzunehmen, die den Ausgang des Krieges und das Schicksal vieler hundert Millionen Menschen nach dem Krieg entscheiden sollte.
2
Nowikow hatte Befehl, sich bei seiner Ankunft in Kuibyschew mit dem Vertreter des Generalstabs, Generalleutnant Rjutin, in Verbindung zu setzen und eine Reihe von Fragen mit ihm zu klären, die das Hauptquartier interessierten. Er hatte erwartet, dass man ihn am Bahnhof abholen würde, aber der Bahnhofsvorsteher, ein Major mit scheuem, unstetem und zugleich verschlagenem Blick, wusste von nichts. Telefonisch war der General vom Bahnhof aus nicht zu erreichen; seine Telefonnummer war so geheim, dass man sie nicht benutzen konnte.
Nowikow machte sich also zu Fuß ins Stabsquartier auf.
Draußen, auf dem Bahnhofsplatz, erfasste ihn jene Befangenheit, die Offiziere einer Kampftruppe erleben, wenn sie plötzlich in ungewohnte städtische Umgebung geraten. Was einen da jäh erschüttert, ist das Gefühl, dass man nicht mehr im Mittelpunkt der Ereignisse steht. Nun gab es keinen Telefonisten mehr, der einem den Hörer hinhielt, keinen Fahrer, der sich auf einen Blick hin beeilte, den Motor anzulassen.
Über die kopfsteingepflasterte Straße rannten Leute zu der sich gerade bildenden Schlange vor der Lebensmittelausgabe.
»Wer ist der Letzte? … Ich komme also nach Ihnen …«
Es schien, als gäbe es für diese mit ihrem Essgeschirr klappernden Menschen nichts Wichtigeres als die Schlange vor der verschrammten Tür der Ausgabestelle. Besonders erbost war Nowikow über die Soldaten, denen er begegnete; fast jeder von ihnen trug ein Köfferchen oder ein Bündel. »Packen sollte man sie alle, die Hundesöhne, und ab an die Front«, dachte er.
Ob er sie heute wirklich sehen würde? Er ging auf der Straße dahin und dachte an sie – Genia, hallo, Genia!
Die Unterredung mit General Rjutin im Zimmer des Bezirkskommandeurs war kurz. Sie hatte kaum begonnen, da wurde der General bereits telefonisch nach Moskau abberufen, er musste sofort abfliegen.
Rjutin entschuldigte sich bei Nowikow und wählte eine Nummer im Ortsbereich: »Mascha, es hat sich alles geändert. Die ›Douglas‹ fliegt bei Morgengrauen, sag’s Anna Aristarchowna. Die Kartoffeln können wir nicht mehr holen; die Säcke sind in der Sowchose …« Sein blasses Gesicht nahm einen angewiderten, gequälten Ausdruck an, und er sagte, offenbar einen Redestrom am anderen Ende der Leitung unterbrechend: »Ja, soll ich vielleicht im Hauptquartier melden, ich könne leider nicht fliegen wegen eines nicht fertig gewordenen Damenmantels?«
Er hängte ein und sagte zu Nowikow: »Genosse Oberst, glauben Sie, dass das Fahrwerk des Panzers den Erfordernissen entspricht, die wir an die Konstrukteure gestellt haben?«
Nowikow ödete dieses Gespräch an. In all den Monaten beim Korps hatte er gelernt, die Menschen, beziehungsweise ihre Sachkenntnis, genau einzuschätzen. Er konnte die fachliche Qualifikation all dieser Bevollmächtigten, Kommissionsleiter, Abgesandten, Inspektoren und Instrukteure, mit denen er beim Korps zu tun hatte, auf Anhieb erkennen, und er irrte sich nie.
Er wusste, was die halblaut gemurmelten Worte bedeuteten: »Genosse Malenkow befiehlt, Ihnen zu übermitteln …«, und er wusste auch, dass es Leute mit Orden und Generalsstreifen gab, die viele schöne und laute Worte zu machen wussten, aber unfähig waren, eine Tonne Dieselöl zu organisieren, einen Lagerverwalter zu ernennen oder einen Schreiber zu entlassen.
Rjutins Metier war nicht die Entscheidungsfindung, sondern die Statistik, die Prozentualität, die Analyse, und Nowikow begann während des Gesprächs verstohlen auf die Uhr zu sehen. Endlich klappte der General sein dickes Notizbuch zu: »Leider wird es Zeit für mich, Genosse Oberst. Ich fliege bei Morgengrauen zum Generalstab.
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