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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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immer wieder den Gang seiner Überlegungen überprüfte, war seine Überzeugung nicht geringer als damals, als ihn die plötzliche Vermutung auf einsamer Straße überrascht hatte.
    Hin und wieder versuchte er, den Weg, den er gegangen war, zurückzuverfolgen. Äußerlich gesehen schien alles recht einfach.
    Die im Labor durchgeführten Versuche hätten die Voraussagen der Theorie bestätigen müssen. Sie taten es aber nicht. Der Widerspruch zwischen den Versuchsergebnissen und der Theorie hatte natürlich Zweifel an der Genauigkeit der Versuche geweckt. Die Theorie, der eine jahrzehntelange Forschungsarbeit vieler Wissenschaftler vorangegangen war und die ihrerseits viele neuere experimentelle Arbeiten erklärt hatte, schien über jeden Zweifel erhaben. Doch die immer wieder erneuerten Versuche hatten gezeigt, dass die Ablenkungen der an der Kernwechselwirkung beteiligten geladenen Teilchen einfach nicht mit der Theorie übereinstimmten. Selbst eine noch so großzügige Bemessung der möglichen Ungenauigkeit bei Messapparaten oder der Qualität der Fotoemulsionen, die beim Fotografieren von Kernexplosionen eingesetzt wurden, konnte derartige Abweichungen nicht mehr erklären.
    Man musste also davon ausgehen, dass die Versuchsergebnisse stimmten, und dementsprechend hatte Strum versucht, die Theorie zurechtzubiegen, sie durch willkürliche Hypothesen zu ergänzen, die eine Übereinstimmung zwischen den im Labor erarbeiteten Versuchsergebnissen und der Theorie ermöglicht hätten. Alles, was er getan hatte, war von dem Grundsatz ausgegangen, dass die Theorie aus einem Versuch abgeleitet sei und daher der Versuch der Theorie nicht widersprechen dürfe. Man hatte ungeheuer viel Arbeit und Energie darauf verwandt, eine Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment zu erzielen. Doch auch die zurechtgebogene Theorie, von der abzuweichen undenkbar erschien, half nicht weiter, die immer neuen widersprüchlichen Daten aus den Versuchen zu erklären. Sie war und blieb unbefriedigend.
    Und da plötzlich war Strum der neue Gedanke gekommen! Er hatte dem Marschall die Epauletten abgerissen!
    Die alte Theorie war nicht mehr die Grundlage, das Fundament, das allumfassende Ganze. Sie war nicht falsch, nicht unsinnig, keine Irrlehre, aber sie war nur ein Teil, eine Einzellösung in einer anderen, neuen Theorie. Sie wurde entthront, in einem einzigen Augenblick.
    Als Strum darüber nachzudenken begann, wie er eigentlich auf die neue Theorie gekommen war, musste er sich zu seiner Überraschung eingestehen, dass er keineswegs systematisch vorgegangen war. Es bestand keinerlei logische Verbindung zwischen der neuen Theorie und den Versuchen. Es war, als hätten sich die Spuren im Sand verloren, so wenig konnte er seine Gedankengänge zurückverfolgen.
    Früher war er davon ausgegangen, dass die Theorie aus dem Versuch entstehe, dass der Versuch ihre Grundlage bilden müsse, dass also Widersprüche zwischen Theorie und neuen Versuchen eine neue, umfassendere Theorie ergeben mussten; doch so hatte sich die Sache eben gerade nicht entwickelt. Die neue Idee war ihm in einem Augenblick gekommen, da er nicht mehr versucht hatte, beides in Einklang zu bringen.
    Das Neue schien sich nicht aus dem Versuch ergeben zu haben, sondern direkt Strums Hirn entsprungen zu sein. Er begriff das mit erstaunlicher Klarheit. Das Neue war ganz von allein gekommen. Sein Gehirn hatte eine Theorie erzeugt, deren Logik und Ursprünge nicht in den Versuchen begründet lagen, die Markow im Labor durchführte. Die Theorie, so schien es wenigstens, war ganz von allein dem freien Spiel seiner Gedanken entsprungen, und dieses gleichsam vom Experiment gelöste Gedankenspiel hatte es plötzlich möglich gemacht, den ganzen Schatz des alten und neuen Versuchsmaterials befriedigend zu erklären.
    Die Versuche waren der äußere Anlass, der Denkanstoß gewesen, doch sie hatten nicht den Inhalt des Gedankens bestimmt.
    Das war verblüffend …
    Sein Kopf war voller mathematischer Zusammenhänge – Differenzialgleichungen, Wahrscheinlichkeitsregeln, Gesetze der höheren Algebra und der Zahlentheorie. Diese mathematischen Zusammenhänge existierten ganz für sich allein, im luftleeren Raum, außerhalb der Welt der Atomkerne und der Sterne, außerhalb der elektromagnetischen Felder und der Schwerkraftfelder, außerhalb von Raum und Zeit, außerhalb der Menschheitsgeschichte und der geologischen Erdgeschichte. Aber sie waren in seinem Kopf.
    Gleichzeitig barg sein Kopf aber

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