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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Deportation hatte sie die alte Kinderfrau gefragt, ob sie jemals verliebt gewesen sei.
    Jenny hatte verlegen geantwortet: »Ja, in einen Jungen mit goldenen Locken und blauen Augen. Er trug eine Samtjacke und einen weißen Kragen. Ich war elf Jahre alt und kannte ihn nur vom Sehen.« Wo mochte er jetzt sein, jener blondgelockte Knabe mit dem Samtjäckchen, wo mochte Jenny sein?
    Jewgenia Nikolajewna setzte sich aufs Bett und schaute auf die Uhr. Gewöhnlich kam Schargorodski um diese Zeit. Nein, heute hatte sie keine Lust, geistreiche Gespräche zu führen.
    Rasch schlüpfte sie in den Mantel, band sich ihr Kopftuch um. Es war natürlich sinnlos – der Transport war längst weg.
    Entlang den Bahnhofsmauern war ein Heer von Menschen, die auf Säcken und Bündeln saßen, in ständiger Bewegung. Jewgenia wanderte durch die Gassen des Bahnhofsviertels; eine Frau bat sie um Lebensmittelmarken, eine andere um einen Reiseschein … Ein paar von den Leuten musterten sie schläfrig und misstrauisch. Auf dem ersten Gleis fuhr donnernd ein Gütertransport vorbei. Die Bahnhofswände erzitterten, und die Scheiben in den Bahnhofsfenstern klirrten. Ihr war, als zittere auch ihr Herz. Offene Güterwagen sausten an der Sperre vorbei; auf ihnen standen Panzer.
    Plötzlich überkam sie ein Glücksgefühl. Immer mehr Panzer flogen an ihr vorbei, und darauf saßen, wie Spielzeuge, Soldaten der Roten Armee, den Helm auf dem Kopf, die Maschinengewehre auf der Brust.
    Auf dem Heimweg schlenkerte sie mit den Armen wie ein Lausbub. Sie hatte ihren Mantel aufgeknöpft, um hin und wieder einen Blick auf ihr Sommerkleid zu werfen. Die Abendsonne erhellte plötzlich die Straßen, und die staubige, kalte, den Winter erwartende, böse, schäbige Stadt erschien ihr auf einmal majestätisch im rosigen Licht. Sie betrat das Haus, und die Wohnungsälteste, Galina Dmitrijewna, die am Tag den Generalobersten im Gang gesehen hatte, als er zu Genia gekommen war, sagte mit unterwürfigem Lächeln: »Da ist ein Brief für Sie.«
    »Ja, alles hat sich zum Guten gewandt«, dachte Genia und öffnete den Umschlag; der Brief war aus Kasan, von ihrer Mutter.
    Sie las die ersten Zeilen, schrie leise auf und rief immer wieder verstört: »Tolja, Tolja!«
    6
    Der Gedanke, der Strum ganz unerwartet nachts auf der Straße gekommen war, bildete die Grundlage seiner neuen Theorie. Die Gleichungen, die er in einigen Wochen Arbeit abgeleitet hatte, dienten keineswegs der Erweiterung der von den Physikern akzeptierten klassischen Theorie, sie ergänzten sie nicht. Im Gegenteil, die klassische Theorie wurde in der von Strum erarbeiteten neuen, erweiterten Lösung zu einem Einzelfall, seine Gleichungen schlossen die bisher als allumfassend geltende Theorie mit ein.
    Strum war eine Zeitlang dem Institut ferngeblieben; Sokolow hatte ihn im Labor vertreten. Er hatte das Haus fast überhaupt nicht mehr verlassen, war im Zimmer auf und ab gegangen, hatte stundenlang am Tisch gesessen. Gegen Abend hatte er hin und wieder einen Spaziergang gemacht, wobei er die einsamen Straßen des Bahnhofsviertels bevorzugte, um keine Bekannten zu treffen. Zu Hause hatte er gelebt wie immer, gegessen, sich gewaschen, bei Tisch Witze gemacht, die Zeitung gelesen, den Bericht des Sowinformbüros gehört, Nadja aufgezogen, Alexandra Wladimirowna über die Fabrik ausgefragt und mit seiner Frau gesprochen.
    Ljudmila Nikolajewna fühlte, dass ihr Mann ihr in diesen Tagen zu gleichen begann – auch er tat alles, was er gewohnt war, was üblich war, ohne innerlich Anteil daran zu nehmen, und es fiel ihm nur deshalb nicht schwer, weil er es eben gewohnt war. Doch diese Gemeinsamkeit brachte Ljudmila ihrem Mann nicht näher, sie war trügerisch. Ihrer beider innere Entfremdung vom häuslichen Leben hatte ganz entgegengesetzte Ursachen – bei ihm war es das Leben, bei ihr der Tod.
    Strum zweifelte nicht an seinen Ergebnissen. Noch nie war er von einer Sache so überzeugt gewesen. Während er diese wissenschaftliche Entdeckung, die bedeutendste, die er je gemacht hatte, formulierte, hatte er nicht ein einziges Mal an ihrer Richtigkeit gezweifelt. In jenen Minuten, als ihm der Gedanke eines Gleichungssystems gekommen war, das eine neue Deutung einer großen Gruppe physikalischer Erscheinungen ermöglichte, hatte er plötzlich, ohne die sonst üblichen Zweifel und Schwankungen, gefühlt, dass dieser Gedanke richtig war.
    Auch jetzt, da seine komplizierten mathematischen Berechnungen fast beendet waren und er

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