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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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auch noch ganz andere Zusammenhänge und Gesetze – die der Quantenwechselwirkung, der Kraftfelder, der Konstanten, der nuklearen Prozesse und ihrer Wirkungen, der Lichtbewegungen, der Raffung und Dehnung von Raum und Zeit. Und das Merkwürdige war: Diese Prozesse der materiellen Welt waren in seinem Physikerschädel bloß Widerspiegelungen der in der mathematischen Wüste geborenen Gesetze. In Strums Kopf spiegelte nicht die Mathematik die Welt wider, nein, die Welt war eine Projektion der Differenzialgleichungen, sie war eine Spiegelung der Mathematik.
    Und zugleich war sein Kopf randvoll mit Messwerten der Apparate und durchzogen von den punktierten Linien, die die Bewegungen der Teilchen und die Kernexplosionen in der Emulsion und auf Fotopapier festhielten.
    Schließlich war in seinem Kopf auch noch Platz für das Rauschen der Blätter, das Licht des Mondes, Hirsebrei mit Milch, das Bullern des Feuers im Ofen, Teile von Melodien, Hundegebell, den römischen Senat, die Meldungen des Sowinformbüros, den Hass gegen alle Knechtschaft und die Liebe zu den Kürbiskernen.
    Und aus diesem wüsten Durcheinander und Miteinander war plötzlich eine Theorie zum Vorschein gekommen, emporgetaucht aus jenen Tiefen, in denen es weder Mathematik noch Physik, weder physikalische Versuche noch Lebenserfahrung gab, die kein Bewusstsein bargen, sondern nur den brennbaren Torf des Unterbewusstseins …
    Die Logik der Mathematik, die keinen Zusammenhang mit der realen Welt hatte, spiegelte sich wider, äußerte, verkörperte sich in der Realität einer physikalischen Theorie, und diese Theorie legte sich plötzlich mit wunderbarer Exaktheit über das komplizierte punktierte Muster, das sich auf dem Fotopapier abzeichnete.
    Der Mann aber, in dessen Kopf sich dieser ganze Prozess abgespielt hatte, blickte auf die Differenzialgleichungen und die Fotopapiere, die die von ihm entdeckte Wahrheit bestätigten, und musste weinen, musste sich die vor Glück feuchten Augen wischen.
    Ohne jene missglückten Versuche aber und ohne das Chaos, die Ungereimtheiten hätten Sokolow und er sicher die alte Theorie zurechtgeflickt, zurechtgebogen und sich geirrt.
    Wie gut, dass die Ungereimtheit stärker gewesen war als ihre Verbohrtheit.
    Dennoch war er sich bewusst, dass die neue Erklärung, auch wenn sie seinem Kopf entsprungen war, durchaus etwas mit den Versuchen Markows zu tun hatte. Gäbe es auf der Welt keine Atomkerne und Atome, könnten sie auch nicht im Gehirn des Menschen sein. O ja, gäbe es den brillanten Markow und den Mechaniker Nosdrin nicht, gäbe es die großartigen Glasbläser Petuschkow, die Moskauer Kraftwerkszentrale, die Hochöfen und die Produktion reiner Reagenzien nicht, dann gäbe es in einem Physikerschädel keine Mathematik, die die Realität unbewusst erfassen könnte.
    Am meisten wunderte Strum, dass er den größten wissenschaftlichen Erfolg seines Lebens zu einer Zeit errungen hatte, da seine Gedanken ganz von Kummer und Schwermut beherrscht worden waren. Wie kam das?
    Warum hatte gerade nach den gefährlichen und gewagten Gesprächen, die ihn so erregt hatten und die in keinerlei Zusammenhang mit seiner Arbeit standen, alles Ungelöste so plötzlich eine Lösung gefunden? Nun ja, eine nichtssagende Koinzidenz, weiter nichts.
    Es war schwer, sich alle diese Zusammenhänge zu erklären …
    Jetzt, da die Arbeit beendet war, verlangte es Strum plötzlich, mit jemandem darüber zu reden; bisher hatte er nicht darüber nachgedacht, mit wem er seine Gedanken teilen könnte, aber nun wollte er Sokolow sehen, Tschepyschin schreiben, nun stellte er sich vor, wie seine Kollegen, die Physiker Mandelstam, Joffe, Landau, Tamm und Kurtschatow, seine neuen Gleichungen aufnehmen würden, wie die Mitarbeiter seiner Abteilung und des Labors, wie die Leningrader auf sie reagieren würden. Er begann darüber nachzudenken, unter welchem Titel er die Arbeit veröffentlichen sollte, welche Haltung der große Däne einnehmen, was Fermi sagen würde. Ja, vielleicht würde sogar Einstein seine Arbeit lesen und ihm einige Worte dazu schreiben. Wer würden die Gegner seiner Theorie sein, welche Fragen könnten sie beantworten helfen?
    Mit seiner Frau wollte er nicht über die Arbeit sprechen, Früher hatte er Ljudmila gewöhnlich jeden Brief, der seine Arbeit betraf, vorgelesen, bevor er ihn abschickte. Wenn er auf der Straße überraschend einen Bekannten getroffen hatte, dann war sein erster Gedanke gewesen: »Da wird Ljudmila aber staunen.«

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