Leben und Schicksal
Wenn er eine Auseinandersetzung mit dem Institutsdirektor hatte und auch einmal scharfe Worte gebrauchte, dann nahm er sich vor: »Das erzähle ich aber Ljudmila, wie ich’s ihm gegeben habe.« Er hatte sich gar nicht vorstellen können, einen Film oder ein Theaterstück anzuschauen, ohne Ljudmila neben sich zu haben, der er zuflüstern konnte: »Mein Gott, was für ein Stuss!« All seine Sorgen und Nöte hatte er mit ihr geteilt; schon als Student hatte er ihr einmal anvertraut: »Weißt du, ich glaube, ich bin ein Idiot.«
Warum schwieg er dann jetzt? Vielleicht war das Bedürfnis, sein Leben mit ihr zu teilen, von der Überzeugung getragen gewesen, dass sie eher sein Leben als ihr eigenes lebte, dass sein Leben auch ihr Leben war? Diese Überzeugung hatte er jetzt nicht mehr. Liebte sie ihn nicht mehr? Oder hatte er vielleicht aufgehört, sie zu lieben?
Aber er erzählte Ljudmila dann doch von seiner Arbeit: »Weißt du«, sagte er, »ich habe plötzlich das eigenartige Gefühl, dass ich, was immer auch in Zukunft geschehen mag, nun nicht umsonst gelebt habe. Zum ersten Mal habe ich keine Angst vor dem Tod, selbst wenn er jetzt, in diesem Moment, vor mir stünde – ich habe etwas zu vererben, hinterlasse etwas«, und er deutete mit dem Finger auf eine beschriebene Seite auf seinem Arbeitstisch.
»Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass diese Arbeit die Eigenschaften der nuklearen Kräfte in einem ganz neuen Licht zeigt, dass sie ein neues Prinzip ist, dass sie der Schlüssel zu vielen verschlossenen Türen ist. Weißt du, es ist mir, als sei ich wieder Kind, nein, doch nicht ganz so … Aber so, als sei aus einem stillen, dunklen Wasser ganz plötzlich und lautlos eine Seerose an die Oberfläche geglitten und erblüht – ach, du lieber Gott …«
»Ich freue mich sehr, wirklich sehr, Vitjenka«, sagte Ljudmila lächelnd, und er spürte genau, dass sie an ganz andere Dinge dachte, dass sie seine Freude und Aufregung nicht teilte. Sie erzählte dann auch weder ihrer Mutter noch Nadja, was er ihr mitgeteilt hatte; sie vergaß es ganz einfach.
Abends ging Strum zu Sokolow. Er wollte nicht nur über seine Arbeit sprechen. Er wollte endlich mit jemandem seine Gefühle teilen.
Pjotr Lawrentjewitsch würde ihn verstehen; schließlich war er nicht nur klug, sondern hatte auch ein gutes und reines Herz. Allerdings befürchtete Strum, dass er ihm Vorwürfe machen und ihn daran erinnern würde, wie verzagt er noch unlängst gewesen sei. Sokolow erging sich zudem gerne in weitschweifigen Erklärungen einer fremden Arbeit und dozierte mit Vergnügen.
Er war schon lange nicht mehr bei Sokolow gewesen. Wahrscheinlich hatte Pjotr Lawrentjewitsch inzwischen schon dreimal wieder Gäste gehabt. Einen Augenblick sah er die vorquellenden Augen Madjarows vor sich. »Hat allerhand Mut, der Kerl«, dachte er. Seltsam, dass er die ganze Zeit über kaum an ihre abendlichen Versammlungen gedacht hatte. Auch jetzt wollte er nicht daran denken. Eine eigenartige Unruhe, ja, Furcht, die Erwartung nahenden Unheils war für ihn mit diesen abendlichen Gesprächen verbunden. Sie hatten sich ja auch ziemlich weit verstiegen, hatten geunkt und geunkt, und jetzt – Stalingrad hielt sich; der Vormarsch der Deutschen war gestoppt; die Evakuierten konnten nach Moskau zurückkehren.
Er erinnerte sich, wie er noch tags zuvor zu Ljudmila gesagt hatte, dass er den Tod nicht mehr fürchte, dass es ihm nichts ausmachen würde, auf der Stelle zu sterben. An seine besserwisserischen Reden aber erinnerte er sich mit Grauen. Madjarow allerdings, der war noch maßloser gewesen, scheußlich. Und dann die Verdächtigungen Karimows. Wenn nun etwas dran war, wenn Madjarow wirklich ein Provokateur war?
»Ja, ja, sterben macht mir nichts aus«, dachte er, »aber ich bin jetzt jener Proletarier, der mehr zu verlieren hat als seine Ketten.«
Sokolow saß in seiner Hausjacke am Tisch und las ein Buch.
»Wo ist denn Marja Iwanowna?«, fragte Strum ganz überrascht und wunderte sich gleich darauf, dass er so überrascht war, ja, ihre Abwesenheit verwirrte ihn so, dass man den Eindruck haben konnte, er sei nicht zu Pjotr Lawrentjewitsch, sondern zu ihr gekommen, um über theoretische Physik zu sprechen.
Sokolow legte die Brille ins Etui und sagte lächelnd: »Sie muss doch nicht immer zu Hause sitzen, oder?«
Da begann Strum stockend, hustend und sich in der Aufregung verhaspelnd Sokolow seine Gedanken und Berechnungen darzulegen. Sokolow war der erste
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