Leben und Schicksal
sämtlicher Abteilungen des Instituts getroffen werden sollten.
»Viktor Pawlowitsch«, hatte er zum Schluss gesagt, »wir sehen uns bald in Moskau. Ich bin glücklich und stolz, das Institut zu einer Zeit leiten zu dürfen, da Sie Ihre bemerkenswerte Forschungsarbeit abgeschlossen haben.«
Auch auf der Mitarbeiterversammlung verlief alles sehr glücklich für ihn. Markow machte sich gewöhnlich über das Laborpersonal lustig und vertrat den Standpunkt: »Doktoren und Professoren haben wir ein ganzes Heer, Kandidaten und wissenschaftliche Mitarbeiter ein Bataillon, aber Soldaten haben wir nur einen Einzigen – Nosdrin! Wir sind eine umgekehrte Pyramide – oben breit und nach unten hin spitz zulaufend. Eine kipplige Angelegenheit. Was wir bräuchten, wäre ein Heer von Nosdrins.« – Aber heute, nach Strums Vortrag, hatte Markow ausgerufen: »Da haben wir ja endlich unser Heer, unsere Pyramide!«
Und auch Sawostjanow, der die wissenschaftliche Forschung stets als eine Art Sport proklamierte, hatte Strum nach seinem Vortrag mit außerordentlich sanften und glücklichen Augen angesehen. Strum begriff, dass er ihn in diesem Augenblick nicht mehr wie ein Fußballer seinen Trainer, sondern wie ein Christgläubiger seinen Apostel betrachtete.
Strum dachte an das jüngste Gespräch mit Sokolow und an den Streit zwischen Sokolow und Sawostjanow und musste sich eingestehen: »Auf die Natur der Kernkräfte verstehe ich mich vielleicht ein wenig, aber auf die menschliche Natur kein bisschen.«
Gegen Ende des Arbeitstages kam Anna Naumowna in sein Büro und sagte: »Viktor Pawlowitsch, der neue Leiter der Kaderabteilung hat mich nicht mit auf die Liste für die Reevakuierung gesetzt. Ich habe sie gerade eingesehen.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Strum, »Sie brauchen sich aber deshalb keine Sorgen zu machen. Die Reevakuierung wird in zwei Etappen durchgeführt, Sie werden mit dem zweiten Trupp fahren, ein paar Wochen später.«
»Ja, aber warum bin ich als Einzige von unserer Gruppe auf die zweite Liste gekommen? Ich verliere hier noch den Verstand; dieses Leben in der Evakuierung hängt mir wirklich zum Hals heraus. Ich träume jede Nacht von Moskau. Außerdem bedeutet das doch, dass die Montage in Moskau ohne mich beginnen wird.«
»Ja, das bedeutet es allerdings. Aber, verstehen Sie, die Liste ist nun schon genehmigt und lässt sich kaum mehr ändern. Swetschin aus dem Magnetlabor hat auch schon wegen Boris Israilewitsch vorgesprochen; dem geht es genau wie Ihnen, aber da scheint nichts zu machen zu sein. Es ist besser, Sie warten.«
Plötzlich brüllte er los: »Weiß der Teufel, was die sich denken; da haben sie lauter unnütze Leute auf die Liste gesetzt, aber Sie, die wir dringend für die Anfangsmontage brauchen, haben sie vergessen!«
»Sie haben mich nicht vergessen«, sagte Anna Naumowna leise, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, »es ist viel schlimmer …«
Nach einem scheuen Blick zur halboffenen Tür fuhr sie fort »Viktor Pawlowitsch, aus irgendeinem Grund haben sie nur jüdische Namen aus der Liste gestrichen, und Rimma, eine Sekretärin aus der Kaderabteilung, hat mir erzählt, dass man auch auf der Liste der ukrainischen Akademie in Ufa fast alle Juden gestrichen hat. Nur wer den Doktor der Wissenschaften hat, darf mit.«
Strum schaute sie mit halboffenem Mund einen Moment lang fassungslos an und brach dann in schallendes Gelächter aus: »Sie sind wohl total verrückt geworden, meine Liebe. Wir leben doch, Gott sei Dank, nicht mehr im zaristischen Russland. Was haben Sie denn da für einen lächerlichen Minderwertigkeitskomplex? Schlagen Sie sich diesen Unfug schleunigst aus dem Kopf.«
8
Freundschaft! Wie viele Arten der Freundschaft gibt es doch! – Berufsfreundschaften, Revolutionsfreundschaften, Wanderfreundschaften, Kriegsfreundschaften und Freundschaften im Etappengefängnis, bei denen zwischen Kennenlernen und Auseinandergehen keine drei Tage liegen, die aber über Jahre hinweg in Erinnerung bleiben; Freundschaften in Freude und Freundschaften im Leid; Freundschaften in Gleichheit oder in Ungleichheit.
Was aber ist Freundschaft? Genügt eine Gemeinsamkeit des Berufs oder des Schicksals, um eine Freundschaft zu begründen? Manchmal ist doch der Hass zwischen Menschen, die der gleichen Partei angehören und deren Ansichten sich nur um Nuancen voneinander unterscheiden, größer als der Hass auf die Feinde dieser Partei. Hassen Kampfgenossen einander nicht mitunter mehr als
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