Leben und Schicksal
den gemeinsamen Feind? Ist nicht der Hass der Häftlinge untereinander oft stärker als der Hass derselben Häftlinge auf ihre Wärter?
Sicher trifft man Freundschaften dort am häufigsten, wo Menschen das gleiche Schicksal, den gleichen Beruf oder die gleiche Gesinnung haben, aber es wäre voreilig, daraus zu schließen, dass allein diese Übereinstimmungen bereits eine Freundschaft begründen und ausfüllen.
Es gibt auch Freundschaften zwischen Menschen, die eine Antipathie gegen ihren Beruf verbindet; und es freunden sich nicht nur Kriegs- und Arbeitshelden an, sondern auch Deserteure und Saboteure – denn auch diesen Freundschaften liegt ja eine Gemeinsamkeit zugrunde.
Können aber auch zwei entgegengesetzte Charaktere Freundschaft schließen? – Ja, natürlich!
Es gibt egoistische und es gibt selbstaufopfernde Freundschaften, doch merkwürdigerweise ist es so, dass der Egoismus in einer Freundschaft dem Partner zugutekommt, während die selbstaufopfernde Freundschaft im Grunde egoistisch ist.
Freundschaft ist ein Spiegel, in dem sich der Mensch selbst erkennt; im Gespräch mit einem Freund findet man häufig zu sich selbst; es ist, als spräche man mit sich selbst, als nähme man mit sich selbst Verbindung auf.
Freundschaft kann Übereinstimmung und Seelenverwandtschaft, sie kann aber auch Verschiedenartigkeit und Fremdheit anzeigen.
Es gibt rein sachliche Freundschaften, die in gemeinsamer Arbeit, dem gemeinsamen Kampf um das Leben oder das tägliche Brot wurzeln.
Es gibt aber auch Freundschaft im Kampf um ein höheres Ziel, Freundschaft im Gedankenaustausch oder Streitgespräch, Freundschaft zwischen Menschen, die getrennt arbeiten, aber gleichen Sinnes sind.
Vielleicht gibt es eine Freundschaft auf höchster Stufe, die alle diese Variationen in sich vereint.
Freunde brauchen sich immer gegenseitig, doch sie profitieren nicht immer in gleichem Maße von der Freundschaft. Oft sind auch ihre Erwartungen an sie ganz verschieden: Der eine Partner lässt den Freund am reichen Schatz seiner Erfahrungen teilhaben und erfährt, indem er dem schwächeren, unerfahrenen, jüngeren Freund hilft, die eigene Kraft und Reife, während der andere, Schwächere, im Freund auf diesem Wege sein Ideal erkennt – Kraft, Erfahrung und Reife. Der eine gibt gern, und der andere nimmt gern.
Es kommt auch vor, dass der Freund das stumme Medium ist, über das der andere zu sich selbst findet und sich selbst und seine geheimen Gedanken kennenlernt.
Die kontemplative, philosophische Freundschaft, die Freundschaft der Vernunft erfordert gewöhnlich eine Übereinstimmung der Ansichten, doch braucht sich diese keineswegs auf alle Gebiete zu erstrecken. Hin und wieder äußert sich Freundschaft ja auch im Streit, darin, dass die Ansichten nicht übereinstimmen.
Wenn sich Freunde in allem einig sind, wenn sie sich im anderen widerspiegeln, dann ist der Streit mit dem Freund ein Streit mit sich selbst.
Ein Freund ist der, der die Fehler, Schwächen, ja sogar die Laster des anderen entschuldigt, seine Tugenden, Talente und Verdienste dagegen hervorhebt.
Ein Freund ist der, der dem anderen in Liebe seine Schwächen, Fehler und Laster vor Augen führt.
So wurzelt die Freundschaft in der Übereinstimmung, findet aber ihren Ausdruck in der Verschiedenheit, in den Widersprüchen. Der eine Partner versucht, ganz egoistisch, das vom Freund zu erlangen, was ihm selbst fehlt, während der andere großzügig das weiterzugeben bemüht ist, was er selbst besitzt.
Der Wunsch nach Freundschaft liegt in der Natur des Menschen, und wer sich nicht mit Menschen befreunden kann, der befreundet sich mit Tieren – Hunden, Pferden, Katzen, Mäusen, ja sogar Spinnen.
Nur ein absolut starkes Wesen, also nur Gott, braucht keine Freundschaft.
Wahre Freundschaft hat nichts mit der äußeren Stellung der Freunde, sondern allein mit ihren inneren Werten zu tun.
So verschiedenartig die Formen der Freundschaft sein mögen, so vielgestaltig ihr Inhalt ist – es gibt eine unerschütterliche Grundlage der Freundschaft, und das ist der Glaube an die gleichbleibende Treue des Freundes. Deshalb ist Freundschaft dort besonders schön, wo der Mensch um des Sabbats willen gemacht ist! Dort, wo Freund und Freundschaft im Namen höherer Interessen geopfert werden, wird einer, der zum Feind des höchsten Ideals erklärt worden ist und alle Freunde verloren hat, fest daran glauben, dass er den einen, einzigen Freund nicht verlieren wird.
9
Als Strum nach Hause
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