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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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untersten Ende der anthropologischen Entwicklungsskala ansiedeln müsste, während der zottige Neandertaler ans obere Ende gehörte.
    »Wenn das ZK Ihnen den Auftrag gäbe, für die Tscheka zu arbeiten, könnten Sie dann etwa ablehnen? Auch Sie haben Ihren Hegel weggelegt und sind marschiert, genau wie wir.«
    Michail Sidorowitsch warf einen raschen Seitenblick auf den Sprechenden – der Name Hegels klang wie eine Lästerung aus diesem Mund … Es war, als hätte sich im Gedränge der Straßenbahn ein gefährlicher, geübter Dieb an ihn herangemacht, der mit ihm ein Gespräch anknüpfte. Mostowskoi wollte so tun, als hörte er ihm zu, und dabei ständig seine Hände im Auge behalten, damit er das Rasiermesser rechtzeitig blitzen sähe, bevor es ihm die Augen zerschnitte.
    Doch Liss hob seine Hände, betrachtete seine Handflächen und sagte: »Meine Hände lieben, genau wie die Ihren, das große Werk, die große Tat. Sie fürchten den Schmutz nicht.«
    Michail Sidorowitsch runzelte die Stirn, so unausstehlich schienen ihm diese Geste und die Worte, die eine Wiederholung seiner eigenen waren.
    Liss sprach nun schnell und angeregt, als habe er sich schon früher einmal mit Mostowskoi unterhalten und freue sich, das unterbrochene Gespräch fortsetzen zu können.
    »Nur zwanzig Flugstunden trennen Sie von Ihrem Arbeitsplatz, von Ihrem Büro eines Lagerkommandanten in der sowjetischen Stadt Magadan. Hier bei uns sind Sie wie zu Hause, aber Sie haben einfach Pech gehabt. Mich schmerzt es immer, wenn Ihre Propaganda anfängt, genau wie die Propaganda der Plutokratien über Parteijustiz zu schreiben.«
    Er schüttelte den Kopf und sprach erneut Worte aus, die für Mostowskoi völlig überraschend und peinlich waren: »Wenn wir einander ansehen, dann erkennen wir nicht nur ein verhasstes Gesicht, sondern wir schauen in einen Spiegel. Das ist die Tragödie unserer Epoche. Erkennen Sie sich denn in uns nicht selbst, Ihren Willen? Ist für Sie die Welt nicht Ihr Wille? Kann man Sie etwa erschüttern oder aufhalten?«
    Liss näherte sein Gesicht dem Mostowskois.
    »Verstehen Sie mich? Ich beherrsche die russische Sprache nicht gut, aber es liegt mir sehr viel daran, dass Sie mich verstehen. Es scheint Ihnen, dass Sie uns hassen, aber das scheint Ihnen nur so: Sie hassen sich selbst in uns. Schrecklich, nicht wahr? Verstehen Sie?«
    Michail Sidorowitsch beschloss zu schweigen. Liss würde ihn nicht aus der Reserve locken.
    Einen Augenblick schien es ihm allerdings, als wolle ihn dieser Mann, der ihm da in die Augen sah, gar nicht betrügen, als bemühe er sich vielmehr aufrichtig, sich ihm verständlich zu machen, ja, als flehe er ihn geradezu an, ihm zu helfen, die Dinge, die ihn quälten, zu durchschauen.
    Michail Sidorowitsch wurde flau im Magen. Es war ihm, als bohre sich eine Nadel in sein Herz …
    »Verstehen Sie, verstehen Sie«, fuhr Liss jetzt hastig fort, er sah Mostowskoi gar nicht mehr, so erregt war er: »Wir haben Ihre Armee aufs Haupt geschlagen, aber in Wirklichkeit schlagen wir uns dabei selbst. Unsere Panzer haben nicht nur Ihre, sondern auch unsere Grenze durchbrochen, die Ketten unserer Panzer zermalmen den deutschen Nationalsozialismus. Schrecklich ist das – wie Selbstmord im Schlaf. Das kann für uns tragisch ausgehen, Verstehen Sie? Wenn wir siegen! Wir, die Sieger, werden ohne Sie sein, allein gegen eine fremde Welt, die uns hasst.«
    Es wäre ein Leichtes gewesen, die Worte dieses Mannes zu widerlegen. Seine Augen kamen nun noch dichter an Mostowskoi heran. Und doch … viel grässlicher und gefährlicher als das, was dieser geübte SS-Provokateur sagte, war das, was sich bei seinen Worten immer wieder, bald heftig, bald zaghaft, im Herzen und Gehirn Mostowskois regte – die ekelhaften, schmutzigen Zweifel, die er nicht in den Worten des Fremden, sondern in seinem eigenen Herzen entdecken musste.
    Er war wie jemand, der Angst vor einer Krankheit hat, einem bösartigen Tumor, jedoch nicht zum Arzt geht, sondern versucht, seine Unpässlichkeit zu ignorieren und allen Gesprächen über Krankheiten auszuweichen. Und da sagt plötzlich jemand zu ihm: »Sagen Sie, Sie haben doch diese und diese Schmerzen, gewöhnlich morgens und gewöhnlich nach … Ja, ja.«
    »Verstehen Sie mich, mein Lehrmeister?«, fragte Liss wieder. »Ein kluger Deutscher, Sie kennen sein Werk sicher gut, hat einmal gesagt, die Tragödie im Leben Napoleons bestand darin, dass er die Seele Englands ausdrückte und gerade in England

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