Leben und Schicksal
der Tat so, dass wir einen Arbeiter- und Bauernstaat haben, dass er von Arbeitern und Bauern regiert wird. Was ist daran Schlechtes? Es ist doch nur gerecht. Der bürgerliche Staat traut schließlich auch dem Hungerleider nicht.«
Darenski war verblüfft. Sein Gesprächspartner schien völlig anders zu denken. Bowa riss ein Streichholz an und hielt es, ohne sich Feuer zu geben, in Darenskis Richtung. Darenski kniff erschrocken die Augen zusammen, als sei er auf dem Schlachtfeld in einen feindlichen Scheinwerfer geraten.
Bowa fuhr fort: »Ich bin zum Beispiel rein werktätiger Herkunft; mein Vater war Arbeiter und mein Großvater auch. Mein Personalbogen ist zum Einrahmen, und doch habe auch ich offenbar bis zum Krieg nichts getaugt.«
»Wieso nicht?«, fragte Darenski.
»Ich finde es nicht bürokratisch, wenn man im Arbeiter- und Bauernstaat den Adeligen gegenüber vorsichtig ist. Warum man aber mich, einen Arbeiter, vor dem Krieg so schlecht behandelt hat, das verstehe ich nicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als Kartoffeln im Obst-und-Gemüse-Lager zu sortieren oder Straßenkehrer zu werden, und doch hatte ich nichts anderes getan, als meinen Klassenstandpunkt offen zu vertreten: Ich hatte die Obrigkeit kritisiert; sie ließen sich’s schon verdammt gutgehen! Da sind sie mir aber an die Gurgel gefahren! Darin sehe ich das Schlimme am Bürokratismus, wenn der Arbeiter in seinem eigenen Staat leiden muss.«
Darenski merkte sofort, dass sein Gesprächspartner da etwas besonders Wichtiges gesagt hatte, und da es sonst nicht seine Art war, über das zu reden, was ihn bewegte und aufwühlte, und da er es auch nicht gewohnt war, solches von anderen zu hören, empfand er jetzt, wie unsäglich erleichternd und beglückend es sein konnte, sich einmal ohne Vorsicht und Angst über das, was einen zutiefst beschäftigte, mit dem anderen aussprechen zu können.
Hier, auf dem Boden dieser schäbigen Hütte, im nächtlichen Gespräch mit dem bescheidenen, betrunkenen und dann wieder nüchtern gewordenen Soldaten Bowa, umgeben von Menschen, die von der Westukraine bis zu dieser Wüstenei marschiert waren, schien alles anders zu sein, und es kam endlich etwas ganz Einfaches, Natürliches, lang Ersehntes und Notwendiges, aber Verbotenes und Undenkbares zustande, nämlich ein offenes Gespräch von Mann zu Mann!
»In einer Hinsicht kann ich Ihnen nicht recht geben«, sagte Darenski. »Die Bourgeois lassen keine Hungerleider an die Regierung, das stimmt, aber wenn der Hungerleider Millionär wird, dann lassen sie ihn wohl. Die Fords waren ursprünglich auch Arbeiter. Bei uns lassen sie keine Bourgeois und Gutsbesitzer in Führungspositionen, schön und gut. Wenn man aber einem arbeitenden Menschen das Kainsmal aufdrückt, nur weil Vater oder Großvater Kulaken oder Geistliche waren, dann ist das etwas anderes. Das hat mit Klassenstandpunkt nichts zu tun. Ja, glauben Sie, ich hätte in den verschiedenen Straflagern keine Putilow-Arbeiter oder Bergleute aus dem Donez-Becken getroffen? – Massenhaft! Unser Bürokratismus ist furchtbar, wenn man bedenkt, dass er nicht etwa ein Geschwür am Körper des Staates ist – das könnte man ja entfernen –, sondern der Staat selbst. Für die Leiter von Kaderabteilungen will schließlich keiner im Krieg sein Leben lassen; auf ein Gesuch ›abgelehnt‹ schreiben oder eine Soldatenwitwe aus dem Büro schmeißen, das kann jeder Speichellecker; aber um die Deutschen rauszuschmeißen, muss man ein ganzer Kerl sein.«
»Das stimmt«, bestätigte Bowa.
»Ich bin gar nicht beleidigt. Ich verneige mich tief, bis zum Boden verneige ich mich und sage noch ›danke schön‹. Ich bin glücklich! Das Schlimme ist nur, dass eine so böse Zeit anbrechen musste, damit ich glücklich werden und Russland dienen durfte. Da kann es mir doch gestohlen bleiben, dieses Glück – verflucht soll es sein.«
Darenski spürte zwar, dass er immer noch nicht zum Kern der Sache, zum Wesentlichen, vorgedrungen war, zu dem, was ein klares und einfaches Licht auf das Leben geworfen hätte, aber wenigstens hatte er über etwas nachgedacht und gesprochen, worüber er normalerweise nicht nachdachte und sprach, und das machte ihn glücklich. Er sagte zu Bowa: »Wissen Sie, dieses nächtliche Gespräch mit Ihnen werde ich nie bereuen, komme, was wolle.«
15
Michail Sidorowitsch brachte über drei Wochen in der Isolierbaracke des Reviers zu. Er wurde gut verpflegt; zweimal untersuchte ihn der SS-Arzt und verordnete ihm
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