Leben und Schicksal
eine Traubenzuckerinfusion.
In den ersten Stunden seiner Haft, als er darauf wartete, zum Verhör geführt zu werden, hatte sich Michail Sidorowitsch unaufhörlich über sich selbst geärgert: Weshalb nur hatte er sich mit Ikonnikow unterhalten? Offensichtlich hatte ihn dieser alte Narr verpfiffen und ihm vor der Durchsuchung die kompromittierenden Zettel untergeschoben.
Die Tage vergingen, aber Mostowskoi wurde nicht zum Verhör geholt. Er dachte über seine politischen Gespräche mit den Gefangenen nach und überlegte, wen von ihnen er zur Arbeit heranziehen sollte. Nachts, wenn er keinen Schlaf finden konnte, entwarf er den Text für die Flugblätter und griff dabei auf Ausdrücke aus dem Lagerwortschatz zurück, damit sich die Menschen, die so verschiedenen Nationalitäten angehörten, leichter untereinander verständigen konnten.
Er rief sich uralte Regeln der konspirativen Arbeit in Erinnerung, die im Falle der Denunzierung durch Provokateure einen möglichen totalen Fehlschlag der Aktion ausschließen sollten.
Michail Sidorowitsch hätte gerne Jerschow und Ossipow über die ersten Schritte der Organisation ausgefragt: Er war sicher, dass es ihm gelingen würde, Ossipow von seiner vorgefassten Meinung über Jerschow abzubringen.
Er empfand Mitleid mit Tschernezow, der den Bolschewismus hasste und zugleich den Sieg der Roten Armee sehnlichst herbeiwünschte. Der Gedanke an das bevorstehende Verhör ließ ihn beinahe unberührt.
In der Nacht hatte Michail Sidorowitsch einen Herzanfall.
Er lag da, den Kopf gegen die Wand gestemmt, überwältigt von einem entsetzlichen Gefühl der Angst, wie es die Sterbenden im Gefängnis empfinden. Vor Schmerz verlor Mostowskoi mitunter das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, hatte der Schmerz etwas nachgelassen, und in seine wirren Gedanken schien wieder Ordnung eingekehrt. Brust, Gesicht und Handflächen waren schweißbedeckt.
Das Gespräch mit dem italienischen Geistlichen über das Böse auf der Welt vermischte sich nun in seiner Erinnerung mit dem Glück, das er einst als Kind empfunden hatte, wenn der Regen plötzlich losprasselte und er ins Zimmer rannte, wo seine Mutter nähte; mit dem Besuch seiner Frau in der Verbannung am Jenissei, mit ihren tränenfeuchten, glücklichen Augen, mit dem bleichen Dserschinski, den er auf einem Parteikongress nach einem netten jungen Sozialrevolutionär gefragt hatte – »Erschossen«, hatte Dserschinski gesagt …; mit den traurigen Augen des Majors Kirillow … Auf dem Schlitten ziehen sie die von einem Laken bedeckte Leiche seines Freundes, der während der Blockade von Leningrad seine Hilfe nicht hatte annehmen wollen …
Der Strubbelkopf des kleinen Jungen, der voller Träume steckte, und jetzt – dieser große, kahle Schädel, der sich gegen die rauen Bretter der Pritsche presste …
Nach und nach verschwammen die Erinnerungen, wurden flacher und fahler. Ihm war, als glitte er langsam in kühles Wasser. Er wachte auf und hörte im Dämmer des anbrechenden Tages wieder das Heulen der Sirenen – ein neuer Tag musste durchgestanden werden.
An diesem Tag führte man Michail Sidorowitsch ins Bad. Missmutig betrachtete er seine mageren Arme und die eingefallene Brust.
»Ja, ja, das Alter fordert seinen Tribut«, dachte er und seufzte. Als der Begleitposten mit einer Zigarette zwischen den Fingern hinausging, sagte der schmalschultrige, pockennarbige Häftling, der den Zementboden mit einem Schrubber bearbeitete: »Jerschow hat mir was für Sie aufgetragen: Im Raum Stalingrad wehren unsere Leute alle Angriffe der Deutschen ab. Ich soll ihnen vom Major ausrichten, dass so weit alles in Ordnung ist.
Sie sollen ein Flugblatt verfassen und es mir beim nächsten Bad aushändigen.«
Mostowskoi wollte einwenden, dass er weder Papier noch Bleistift habe, aber da kam der Posten wieder herein.
Beim Anziehen spürte Michail Sidorowitsch in seiner Tasche ein Päckchen. In seine Zelle zurückgekehrt, packte er es aus. Da lagen zehn Stückchen Zucker, ein Stück Speck, in einen Stofffetzen gewickelt, ein Schnipsel weißes Papier und ein Bleistiftstummel.
Mostowskoi war überglücklich. Was wollte er mehr? Nun brauchte er sein Leben doch nicht nur mit dem fruchtlosen Gedanken an seine Sklerose, seinen Magen und seine Herzanfälle zu beschließen!
Er presste die Zuckerstückchen und den Bleistiftstummel an sein Herz.
In dieser Nacht führte ihn ein SS-Unteroffizier aus dem Revier hinaus auf die Straße. Kalte Windstöße fuhren
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