Leben und Schicksal
seinen erbittertsten Feind hatte.«
»Ach, hätten sie mich doch nur gleich zusammengeschlagen«, sagte Mostowskoi zu sich selbst und dachte zugleich: »Da hat er wohl Spengler gemeint.«
Liss steckte sich eine Zigarette an und hielt Mostowskoi das Etui hin.
Michail Sidorowitsch sagte grob: »Ich will nicht.«
Der Gedanke beruhigte ihn, dass alle Polizisten der Welt, sowohl diejenigen, die ihn vor vierzig Jahren verhört hatten, als auch dieser hier, der sich über Hegel und Spengler verbreitete, offenbar den gleichen idiotischen Trick anwandten: Sie boten dem Häftling Zigaretten an. Eigentlich war es ja nur Nervosität und Verblüffung, die ihm zu schaffen machten – er hatte Schläge erwartet, und stattdessen wurde ihm dieses unangenehme, widerwärtige Gespräch serviert. Allerdings hatten sich auch manche Polizisten des Zaren in der Politik ausgekannt; es hatte unter ihnen ausgesprochen gebildete Leute gegeben; einer hatte sogar das »Kapital« gelesen. Mostowskoi hätte gerne gewusst, ob dieser Polizist, der Marx studiert hatte, vielleicht auch einmal in seinem tiefsten Inneren Zweifel gehegt hatte – wie, wenn Marx doch recht hätte? Was hätte er dann wohl empfunden? Ekel, Grauen vor seinen eigenen Zweifeln? Aber eins war sicher, aus dem Polizisten wäre kein Revolutionär geworden. Er hätte seine Zweifel erstickt und wäre Polizist geblieben. – Und ich? Auch ich werde meine Zweifel ersticken und Revolutionär bleiben.
Liss, der gar nicht bemerkt zu haben schien, dass Mostowskoi die Zigarette abgelehnt hatte, murmelte: »Ja, ja, bitte, wirklich, nehmen Sie, sehr guter Tabak«, klappte dann das Etui zu und verlor endgültig die Beherrschung: »Ja, warum überrascht Sie denn dieses Gespräch so? Sie haben ein anderes Gespräch erwartet? Ja, gibt es denn bei Ihnen in der Lubjanka keine gebildeten Menschen? Gibt es niemanden, der mit einem Akademiemitglied Pawlow oder einem Oldenburg reden könnte? – Aber Ihre Leute verfolgen ein bestimmtes Ziel, während ich, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, mit diesem Gespräch keine geheime Absicht verfolge. Mich quälen die gleichen Fragen wie Sie.«
Er lächelte und fügte hinzu: »Das Ehrenwort eines Gestapo-Mannes, das ist nicht wenig.«
Michail Sidorowitsch wiederholte sich unaufhörlich: schweigen, vor allem schweigen, sich nicht ins Gespräch verwickeln lassen, nicht widersprechen.
Liss redete weiter, und wieder schien es, als habe er Mostowskois Anwesenheit völlig vergessen.
»Zwei Pole! Natürlich, so ist es! Wenn es nicht so wäre, dann hätten wir jetzt nicht diesen furchtbaren Krieg. Wir sind Ihre Erzfeinde, ja, ja. Doch unser Sieg ist Ihr Sieg. Verstehen Sie? Und wenn Sie siegen, dann werden wir untergehn, aber in Ihrem Sieg weiterleben. Das klingt paradox: Indem wir den Krieg verlieren, werden wir ihn gewinnen, werden uns in anderer Form weiterentwickeln, im Wesen jedoch unverändert bleiben.«
Warum um alles in der Welt hatte dieser allmächtige Liss, anstatt sich irgendwelche erbeuteten Filme vorführen zu lassen, Wodka zu trinken, Berichte an Himmler zu schreiben, Bücher über Gartenbau zu studieren, die Briefe seiner Tochter zu lesen, mit jungen Mädchen aus dem Gefangenentransport zu scherzen oder nach Einnahme einer stoffwechselfördernden Arznei in seinem geräumigen Schlafzimmer zu schlafen, warum nur hatte er mitten in der Nacht einen alten, nach Lager stinkenden russischen Bolschewiken zu sich rufen lassen? Was hatte er sich dabei gedacht? Warum verbarg er seine wahre Absicht? Was wollte er in Wirklichkeit von ihm?
Michail Sidorowitsch hatte keine Angst vor der Folter; viel schrecklicher war ihm der Gedanke, dass der Deutsche womöglich nicht log, dass er vielleicht tatsächlich das rein menschliche Bedürfnis hatte, sich auszusprechen.
Was für ein widerwärtiger Gedanke! Beide waren sie krank, beide von der gleichen Krankheit verzehrt, aber der eine hatte es nicht ausgehalten und angefangen zu schwätzen, sich auszukotzen, während der andere schwieg, seine Krankheit verheimlichte, aber begierig zuhörte.
Als antworte er auf die stumme Frage Mostowskois, schlug Liss eine Akte auf, die vor ihm auf dem Tisch lag, und nahm mit spitzen Fingern einen Packen schmutzigen Papiers heraus. Mostowskoi erkannte es sofort – es war Ikonnikows Geschmiere.
Liss hatte offenbar damit gerechnet, dass Mostowskoi, unversehens mit diesen ihm von Ikonnikow untergeschobenen Seiten konfrontiert, die Fassung verlieren würde, aber er irrte sich.
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