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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ihm ins Gesicht. Michail Sidorowitsch schaute zu den schlafenden Baracken hinüber und dachte: »Schlaft nur, die Nerven des Genossen Mostowskoi werden schon nicht versagen, schlaft nur, Kameraden.«
    Sie betraten die Lagerverwaltung. Hier roch es nicht mehr nach Ammoniak, sondern nach abgestandenem Tabakrauch. Mostowskoi bemerkte auf dem Boden eine große Zigarettenkippe und hätte sie gern aufgehoben.
    Im zweiten Stock befahl der Begleitposten Mostowskoi, sich die Füße an der Matte abzutreten, und tat es selbst äußerst gründlich. Mostowskoi war vom Treppensteigen ganz außer Atem und rang mühsam nach Luft.
    Sie gingen einen teppichbelegten Gang entlang. Kleine, tulpenförmige Milchglaslampen warfen ein sanftes, freundliches Licht auf den Korridor. Sie kamen an einer hochglanzpolierten Tür mit dem Schild »Kommandant« vorbei und hielten schließlich vor einer ebenso prächtigen Tür mit der Aufschrift »Obersturmbannführer Liss«.
    Mostowskoi hatte diesen Namen schon oft gehört – Liss war der Stellvertreter Himmlers in der Lagerverwaltung. Es amüsierte ihn, dass General Guds sich geärgert hatte, weil Ossipow von Liss persönlich verhört worden war, während man Guds nur einem Assistenten von Liss vorgeführt hatte. Guds hatte das als Missachtung seines militärischen Ranges empfunden.
    Ossipow hatte erzählt, dass Liss ihn ohne Dolmetscher verhört habe. Er stammte aus Riga und konnte Russisch.
    Ein junger Offizier trat auf den Gang hinaus, wechselte einige Worte mit dem Begleitposten und führte Michail Sidorowitsch in das Büro; die Tür blieb offen.
    Das Zimmer war leer. Ein Teppich auf dem Boden, Blumen in einer Vase, an der Wand ein Bild – Bauernhäuser mit roten Ziegeldächern vor einem Wald.
    Mostowskoi hatte gedacht, er geriete in das Büro eines Schlachthofdirektors; er hatte das Röcheln von sterbendem Vieh, dampfende Eingeweide und blutbespritzte Männer erwartet. Stattdessen absolute Stille, überall Teppiche; nur die schwarzen Telefonapparate auf dem Schreibtisch wiesen auf eine Verbindung zwischen diesem Zimmer und dem Schlachthof hin.
    Der Feind! Was für ein einfaches, klares Wort! Und wiederum dachte er an Tschernezow – was für ein trauriges Schicksal in dieser »Sturm und Drang«-Zeit! Dafür aber in Glacéhandschuhen. Mostowskoi betrachtete prüfend seine Hände und Finger. Im Hintergrund öffnete sich eine Tür, und sogleich knarrte die Tür zum Flur. Der Posten hatte sie offenbar bei Liss’ Eintreten geschlossen.
    Mostowskoi stand mit gerunzelter Stirn und wartete.
    »Guten Tag«, sagte der gedrungene Mann mit den SS-Runen auf dem Ärmel seiner grauen Uniform leise auf Russisch.
    Das Gesicht von Liss hatte nichts Abstoßendes an sich; umso schrecklicher erschien Michail Sidorowitsch sein Anblick – Hakennase, aufmerksame dunkelgraue Augen, hohe, gewölbte Stirn und blasse, eingefallene Wangen, die seinem Gesicht einen asketischen Ausdruck verliehen.
    Liss wartete, bis der Hustenanfall Michail Sidorowitschs vorbei war, und sagte dann: »Ich möchte mit Ihnen reden.«
    »Aber ich möchte nicht mit Ihnen reden«, antwortete Mostowskoi und schielte in die hintere Ecke des Zimmers, aus der, wie er vermutete, sogleich Liss’ Henkersknechte hervorstürzen würden, um ihn, den alten Mann, zu schlagen.
    »Das verstehe ich gut«, sagte Liss stattdessen, »setzen Sie sich.«
    Er bot Mostowskoi einen Sessel an und setzte sich neben ihn.
    Sein Russisch war irgendwie ohne Klang, wie kalte Asche; er sprach in der Sprache populärwissenschaftlicher Abhandlungen.
    »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    Michail Sidorowitsch zuckte mit den Schultern und schwieg.
    »Ja, ja, ich weiß. Ich habe Ihnen einen Arzt geschickt, er hat mir berichtet. Ich habe Sie mitten in der Nacht belästigt, aber ich wollte mich unbedingt einmal mit Ihnen unterhalten.«
    »Von wegen«, dachte Michail Sidorowitsch. Laut sagte er: »Ich bin zu einem Verhör gerufen worden und nicht zu einer Unterhaltung.«
    »Warum nicht eine Unterhaltung?«, fragte Liss. »Ach, meine Uniform? – Ich bin nicht darin auf die Welt gekommen. Der Parteiführer befiehlt, und wir marschieren, Soldaten der Partei. Ich war immer Parteitheoretiker; ich interessiere mich für Fragen der Geschichtsphilosophie, aber ich bin Parteimitglied. Liebt etwa jeder eurer NKWD-Mitarbeiter die Lubjanka?«
    Mostowskoi beobachtete den Gesichtsausdruck von Liss und hatte plötzlich die Idee, dass man dieses blasse Gesicht mit der hohen Stirn von Rechts wegen am

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