Leben und Schicksal
fertig.«
Doch Liss tat, als habe er Mostowskois Worte gar nicht gehört, und verneigte sich tief vor ihm. Dann sagte er: »Ihr werdet stets unsere Lehrmeister sein und zugleich unsere Schüler. Wir werden gemeinsam denken.«
Sein Gesicht war traurig und ernst, aber seine Augen lachten Und wieder stach die giftige kleine Nadel Michail Sidorowitsch ins Herz.
Liss schaute auf die Uhr.
»So vergeht die Zeit auch nicht, es hat keinen Zweck.«
Er läutete und sagte leise: »Nehmen Sie diesen Aufsatz, wenn Sie wollen. Wir sehen uns bald wieder. Gute Nacht.«
Mostowskoi wusste selbst nicht, warum er die Blätter vom Tisch nahm und einsteckte.
Man brachte ihn aus dem Verwaltungsgebäude auf die Straße; er sog die kalte Luft ein – wie gut tat diese feuchte Nachtluft und sogar das Heulen der Sirenen in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen nach diesem Gestapo-Zimmer und der gedämpften Stimme eines nationalsozialistischen Theoretikers.
Auf dem Weg zum Revier überholte sie auf dem schmierigen Asphalt ein Pkw mit violetten Scheinwerfern. Mostowskoi wusste, dass Liss in dem Wagen saß und in sein Quartier fuhr, und eine schreckliche Niedergeschlagenheit packte ihn aufs Neue. Der Begleitposten führte ihn in seine Zelle und verriegelte die Tür.
Er setzte sich auf die Pritsche und dachte: »Würde ich an Gott glauben, dann könnte ich sagen, dass mir dieser furchtbare Gesprächspartner als Strafe für meine Zweifel geschickt wurde.«
Er konnte keinen Schlaf mehr finden; der neue Tag hatte bereits begonnen. Den Rücken an die raue, aus alten Fichtenbrettern zusammengenagelte Wand gepresst, begann Michail Sidorowitsch, sich in das Gekrakel Ikonnikows zu vertiefen.
16
»Die meisten auf der Welt lebenden Menschen verschwenden keinen Gedanken auf die Bestimmung des ›Guten‹. Worin besteht das Gute? Für wen ist es gut? Von wem kommt es? Gibt es ein übergreifendes Gutes, das für alle Menschen gilt, für alle Generationen, für alle Lebenssituationen? Oder ist, was für mich gut ist, für dich schlecht, was für mein Volk gut ist, für deines schlecht? Ist das Gute ewig, unveränderlich, oder ist, was gestern gut war, heute schlecht, und was gestern schlecht war, heute gut?
Kommt die Zeit des Jüngsten Gerichts, machen sich nicht nur Philosophen und Prediger Gedanken über Gut und Böse, sondern alle Menschen, gebildete wie ungebildete.
Sind die Menschen im Laufe der Jahrtausende in ihren Vorstellungen vom Guten vorangekommen? Gibt es einen für alle Menschen, ob Griechen oder Juden, gleichermaßen gültigen Begriff des Guten, wie das die Evangelisten annahmen, einen, der für alle Klassen, Nationen und Staaten gilt? Oder ist dieser Begriff vielleicht noch umfassender, gilt er auch für Tiere, Bäume und für das Moos? Ist er so umfassend, wie Buddha und seine Jünger glaubten und glauben, jener Buddha, der, um zu einem Leben voller Güte und Liebe zu gelangen, das Leben schließlich negieren musste?
Ich sehe: Die in den Jahrhunderten entstandenen Vorstellungen der moralphilosophischen Führer der Menschheit engten den Begriff des Guten immer weiter ein.
In den christlichen Vorstellungen, durch fünf Jahrhunderte von den buddhistischen getrennt, wird das Gute allein dem Lebendigen zugeordnet, erfasst aber nicht alles Lebendige, sondern nur den Menschen!
Das, was die ersten Christen als das für die gesamte Menschheit geltende Gute ansahen, wurde im Laufe der Zeit durch etwas ersetzt, was für die Christen, und nur für sie, gut war; daneben gab es dann auch das Gute der Moslems und das der Juden.
Aber die Jahrhunderte vergingen, und das Gute der Christen zerfiel in das Gute der Katholiken, das Gute der Protestanten das Gute der Orthodoxen und dieses wiederum in das Gute der Altgläubigen und das der Reformierten.
Daneben existierte das Gute der Reichen und das der Armen das Gute der Gelben, der Schwarzen und der Weißen.
Immer kleiner und kleiner wurden die Stückchen – Sekten, Rassen, Klassen; alles, was außerhalb des geschlossenen Kreises lag, konnte nicht mehr das Gute sein.
Und die Menschen sahen, dass viel Blut für dieses kleine, ungute Gute vergossen wurde; im Namen dieses kleinen Guten wurde alles bekämpft, was in seinem Lichte böse war.
So wurde der Begriff des Guten nicht selten zu einer Geißel des Lebens, zu einem größeren Übel als das bekämpfte Übel selbst.
Das so begriffene Gute ist weiter nichts als eine leere Hülse, aus der das heilige Korn herausgefallen ist. Wer gibt den Menschen
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