Leben und Schicksal
löschen? Uns hasst man, während die gesamte Menschheit voller Hoffnung auf euer Stalingrad blickt? Wird das bei euch behauptet? Alles Unsinn! Es gibt keinen Abgrund zwischen uns und euch. Man hat ihn erfunden. Wir sind verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Sache – des Einparteienstaates. Bei uns sind die Kapitalisten nicht die Herren. Der Staat gibt ihnen Plan und Programm vor. Der Staat streicht ihre Produktion und ihren Gewinn ein. Sie bekommen sechs Prozent vom Gewinn für sich – das ist ihr Lohn. Auch euer Einparteienstaat bestimmt Plan und Programm und streicht die Produktion ein. Die, die ihr die Herren nennt, die Arbeiter, bekommen ebenfalls nur ihren Lohn von eurem Staat.«
Michail Sidorowitsch betrachtete Liss und dachte: »Wie mich dieses niederträchtige Geschwätz auch nur für einen Augenblick irremachen konnte! Wie habe ich mich nur an dieser giftigen, stinkenden Jauche verschlucken können!«
Liss winkte entmutigt ab: »Auch über unserem Volksstaat weht das rote Arbeiterbanner, auch wir rufen zu nationaler und produktiver Leistung und Einheit auf. Auch wir sagen: ›Die Partei ist die Verwirklichung des Traums eines jeden deutschen Arbeiters.‹ Auch ihr sprecht von Volkstum und Arbeit. Auch ihr wisst genau wie wir: Der Nationalismus ist die mächtigste Kraft des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Nationalismus ist der Geist unserer Epoche! Sozialismus in einem Land – das ist doch die höchste Form des Nationalismus.
Ich kann den Grund für unsere Feindschaft einfach nicht begreifen. Und dennoch hat der geniale Lehrmeister und Führer des deutschen Volkes, unser Vater, der beste Freund der deutschen Mütter, der größte Stratege aller Zeiten und Völker, diesen Krieg begonnen. Und trotzdem glaube ich an Hitler! Ich glaube, dass eurem Stalin Hass und Schmerz nicht die Sinne vernebeln. Er sieht die Wahrheit durch das Feuer und den Rauch dieses Krieges hindurch. Er kennt seinen wahren Feind, kennt ihn sogar jetzt, wo er mit ihm die Strategie des Krieges gegen uns erörtert und das Glas auf sein Wohl erhebt. Es gibt auf der Welt nur zwei große Revolutionäre – Stalin und unseren Führer. Ihr Wille hat den Staatsnationalsozialismus geboren. Für mich ist die Freundschaft mit euch wichtiger als der Krieg gegen euch um die östlichen Weiten. Wir bauen zwei Häuser; sie müssen nebeneinanderstehen. Ich möchte, Lehrmeister, dass Sie in der Abgeschiedenheit Ihrer Zelle einmal darüber nachdenken, bevor wir uns wiedersehn.«
»Wozu?«, sagte Mostowskoi. »Es ist dumm, sinnlos und peinlich! Und was soll diese idiotische Anrede ›Lehrmeister‹?«
»Oh, die ist nicht idiotisch. Sie und ich müssen begreifen:
Die Zukunft wird nicht auf den Schlachtfeldern entschieden. Sie haben Lenin persönlich gekannt. Er hat die Partei des neuen Typs geschaffen. Er hat als Erster verstanden, dass nur Partei und Führer den Impuls der Nation ausdrücken können, und hat Schluss gemacht mit der Gesetzgebenden Versammlung. Aber wie Maxwell in der Physik die Newton’sche Mechanik zerstört hat, obwohl er sie eigentlich bestätigen wollte, so hat Lenin, als er den großen Nationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts ins Leben rief, geglaubt, den Internationalismus zu begründen. Dann hat uns Stalin viel gelehrt. Um den Sozialismus in einem Land zu verwirklichen, muss man die Freiheit der Bauern, Korn zu säen und zu verkaufen, ausrotten, und Stalin hat sich nicht gescheut, Millionen von Bauern zu liquidieren … Auch Hitler hat erkannt, dass der deutschen nationalsozialistischen Bewegung ein Feind droht – das Judentum –, und er hat beschlossen, Millionen von Juden zu liquidieren. Aber Hitler ist nicht nur ein Schüler, sondern auch ein Genie! Das Vorbild für seine Parteisäuberung im Jahre 1937 hat Stalin in Hitlers Säuberung von Röhm und seinen Anhängern gefunden – auch Hitler hat nicht davor zurückgescheut. Sie müssen mir einfach glauben. Ich habe gesprochen, und Sie haben geschwiegen, aber ich weiß, dass ich für Sie wie ein Spiegel bin.«
Mostowskoi stieß hervor: »Ein Spiegel? – Alles, was Sie gesagt haben, ist vom ersten bis zum letzten Wort erlogen. Es ist unter meiner Würde, Ihr dreckiges, stinkendes, provokatives Geschwätz zu widerlegen. Ein Spiegel? Ja, sind Sie denn noch bei Trost? – Aber Stalingrad wird Ihnen den Kopf schon wieder zurechtsetzen.«
Liss erhob sich, und Mostowskoi dachte in einer Mischung aus Bestürzung, Begeisterung und Hass: »Jetzt erschießt er mich, und
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