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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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denen zur größeren Ehre von Staaten und Nationen und im Sinne eines weltweiten Guten der Wahnsinn herrscht, in denen die Menschen nicht mehr Menschen gleichen, sondern Ästen, die vom Wind hin und her gebogen werden, und Steinen, die, andere Steine mit sich reißend, Schluchten und Täler füllen, in dieser Zeit ist die unscheinbare, gedankenlose Güte in kleinste Teilchen zersplittert, aber nicht verschwunden.
    Ein deutsches Strafkommando kommt in ein Dorf. Am Vorabend sind auf der Straße zwei deutsche Soldaten getötet worden. Abends haben sie die Frauen zusammengetrieben und ihnen befohlen, am Waldrand eine Grube auszuheben. Bei einer älteren Frau haben sich einige Soldaten einquartiert. Ihren Mann hat die Polizei mit weiteren zwanzig Bauern abgeholt. Sie findet bis zum Morgen keinen Schlaf; die Deutschen haben im Vorratsraum einen Korb Eier und ein Glas Honigwein gefunden, haben selbst den Ofen eingeheizt, die Eier gebraten und Schnaps getrunken. Dann holt der Älteste von ihnen seine Mundharmonika heraus, die anderen stampfen mit den Füßen den Takt und singen dazu. Die Wirtin beachten sie nicht, als wäre sie kein Mensch, sondern eine Katze. Als es dämmert, beginnen sie ihre Maschinenpistolen zu reinigen; der Mundharmonikaspieler kommt an den Abzug und schießt sich in den Bauch. Es gibt eine Riesenaufregung. Irgendwie verbinden sie den Kameraden und legen ihn aufs Bett. Dann müssen sie alle zum Appell. Sie bedeuten der Frau, den Verwundeten zu versorgen. Sie sieht sofort, dass es ganz leicht wäre, ihn zu ersticken. Er murmelt, schließt die Augen, weint und schmatzt mit den Lippen. Plötzlich öffnet er die Augen und sagt ganz deutlich: ›Mütterchen, Wasser‹ – ›Verfluchter Kerl, ersticken sollt’ ich dich‹, murmelt die Frau und gibt ihm Wasser. Er packt sie am Arm und bedeutet ihr, ihn aufzurichten; das Blut erstickt ihn sonst. Er klammert sich an ihren Hals, sie hilft ihm hoch. Dann hört man Schüsse im Dorf. Die Frau fährt zusammen.
    Später erzählt sie, wie alles war, aber niemand versteht sie, nicht einmal sie selbst kann es sich erklären.
    Das ist die Güte, die in der Sage vom Einsiedler, der die Schlange an seiner Brust gewärmt hat, wegen ihrer Gedankenlosigkeit verurteilt wird; es ist die Güte, die das Leben der Tarantel schont, obwohl sie das Kind gestochen hat – eine törichte, blinde, ja schädliche Güte.
    Die Menschen führen gern Beispiele aus Sagen und Erzählungen an, die beweisen sollen, wie gefährlich diese gedankenlose Güte sein kann. Dabei ist sie ebenso harmlos wie ein Süßwasserfisch, der zufällig aus dem Fluss ins salzige Meer gelangt ist. Man braucht sie nicht zu fürchten! Wenn sie auch hin und wieder der Gesellschaft, der Klasse, der Rasse oder dem Staat schadet, so verblassen diese Schäden doch völlig vor dem Licht, das gedankenlos gütige Menschen ausstrahlen.
    Sie, diese törichte Güte, ist das Menschliche im Menschen. Sie zeichnet den Menschen aus, sie ist das Höchste, was der menschliche Geist erreicht hat. Das Leben ist nicht böse, sagt sie.
    Diese Güte ist stumm und gedankenlos, instinktiv und blind. Sobald das Christentum sie in die Lehre der Kirchenväter einzubeziehen versuchte, begann sie zu verblassen; das Korn kehrte in seine Hülse zurück. Sie ist stark, diese Güte, solange sie stumm, unbewusst und gedankenlos im lebendigen Dunkel des menschlichen Herzens wohnt und nicht zur Waffe und Ware der Prediger wird, solange ihr Gold nicht zur Münze der Heiligkeit geprägt wird. Sie ist so einfach wie das Leben. Selbst Jesus hat ihr durch seine Worte die Kraft genommen – ihre Kraft liegt in der Stummheit des menschlichen Herzens.
    Da ich aber bereits an dem Guten zweifle, das der Mensch hervorgebracht hat, habe ich mich auch der Zweifel an seiner Güte nicht erwehren können. Ihre Ohnmacht bekümmert mich! Was nützt sie, wenn sie doch nicht ansteckend ist.
    Ich dachte, sie ist machtlos, schön und machtlos wie der Tau.
    Wie kann man ihr zur Macht verhelfen, ohne sie auszudörren, ohne sie zu verlieren, wie die Kirche sie ausgedörrt und verloren hat? Die Güte ist nur mächtig, solange sie ohnmächtig ist. Kaum versucht der Mensch, ihr Macht zu verleihen, verblasst sie und geht verloren.
    Jetzt erkenne ich die wahre Macht des Bösen. Der Himmel ist leer. Auf Erden ist nur der Mensch. Wie also sollte man des Bösen Herr werden? Mit den Tropfen des lebendigen Taus, mit der menschlichen Güte? Aber diese Flamme kann man nicht mit dem Wasser

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