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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Greise sterben, und Blut wird vergossen. Nicht nur die Menschen, auch Gott ist ohnmächtig, das Böse in der Welt zu vermindern.
    ›Horch, in Rama hört man Klagen und bitteres Weinen: Rachel beweint ihre Kinder, will sich nicht trösten lassen – ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.‹ Und ihr, die ihre Kinder verloren hat, ist es gleichgültig, was die Weisen für gut und für böse halten.
    Ist dann aber vielleicht das Leben an sich böse?
    Ich habe die unerschütterliche Kraft der Idee des gesellschaftlichen Guten in meinem eigenen Land beobachten können. Ich habe diese Kraft während der allgemeinen Kollektivierung beobachtet, und ich habe sie im Jahre 1937 beobachtet. Ich habe beobachtet, wie im Namen eines Ideals, das ebenso schön und menschlich ist wie das des Christentums, Menschen vernichtet wurden; ich habe ganze Dörfer den Hungertod erleiden und Bauernkinder im sibirischen Schnee sterben sehen; ich habe erlebt, wie Hunderttausende von Frauen und Männern aus Moskau, Leningrad, aus allen Städten Russlands in Massentransporten nach Sibirien geschafft wurden, weil sie angeblich Feinde der großen und hehren Idee des gesellschaftlichen Guten waren. Diese Idee war schön und groß, und sie hat die einen erbarmungslos niedergemäht und die anderen für ihr Leben ruiniert; sie hat den Männern ihre Frauen, den Vätern ihre Kinder entrissen.
    Jetzt bedroht der deutsche Faschismus die Welt. Die Luft ist erfüllt von den Seufzern und dem Wehgeschrei der Gefangenen. Der Himmel hat sich verfinstert, die Sonne ist im Rauch der Verbrennungsöfen erloschen.
    Doch auch diese nicht nur für das gesamte Universum, sondern sogar für die Menschen auf Erden völlig neuen und unerhörten Verbrechen werden im Namen des Guten verübt.
    Einst, als ich noch in den Wäldern des Nordens lebte, habe ich mir eingebildet, das Gute sei nicht im Menschen, nicht in der räuberischen Welt der Tiere und Insekten zu suchen, sondern im stummen Reich der Bäume. Aber weit gefehlt! Ich habe die Entwicklung des Waldes, seinen heimtückischen Kampf mit Gras und Büschen um jeden Millimeter Boden beobachtet. Milliarden fliegender Samen töten das Gras; wenn sie aufgehn, ersticken die friedlichen Büsche; dann beginnen Millionen Sprosse der siegreichen Saat sich gegenseitig zu bekämpfen, und nur diejenigen, die überleben, bilden die geschlossene Decke des jungen, dem Lichte zustrebenden Waldes, gehen miteinander das Bündnis der Ebenbürtigen ein. Unter ihrer Decke vegetieren Fichten und Buchen in aufgezwungenem Halbdunkel.
    Doch auch den im Lichte sich Sonnenden schlägt einmal die Stunde; kraftstrotzende Fichten drängen durch die Laubdecke ans Licht und versetzen Erlen und Birken den Todesstoß.
    So lebt der Wald im ewigen Kampf aller gegen alle. Nur Blinde suchen das Gute im Reich der Bäume und Gräser. Ist also doch das Leben an sich böse?
    Wenn das Gute nicht in der Natur, nicht in den Predigten der Propheten, nicht in den Lehren der großen Soziologen und Volksführer und nicht in der Ethik der Philosophen liegt, wo dann? Es liegt in den Herzen der einfachen Menschen; sie lieben alles Lebendige und schonen instinktiv das Leben, sie erfreuen sich nach einem harten Arbeitstag an der Wärme des heimischen Herdes und entfachen keine Scheiterhaufen und Brände auf öffentlichen Plätzen.
    Neben dem fürchterlichen Großen Guten gibt es also die schlichte menschliche Güte. Es ist die Güte der Greisin, die dem Gefangenen ein Stück Brot zusteckt, die Güte des Soldaten, der einem verwundeten Feind seine Feldflasche reicht, die Güte der Jugend gegenüber dem Alter, die Güte des Bauern, der einen alten Juden in der Scheune versteckt. Es ist die Güte jener Wächter, die ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzen, um nicht etwa Gesinnungsgenossen, sondern den Müttern und Ehefrauen die Briefe ihrer gefangenen Männer und Söhne zu überbringen.
    Das ist die private Güte des Einzelnen gegenüber einem anderen Einzelnen, die kleine Güte, die keine Zeugen hat und keine Idee; man könnte sie die gedankenlose Güte nennen; Güte des Menschen außerhalb des religiösen und gesellschaftlichen Guten.
    Wenn wir darüber nachdenken, werden wir feststellen: Die gedankenlose, private, zufällige Güte ist ewig. Sie erstreckt sich auf alles Lebendige, sogar auf die Maus und den gebrochenen Zweig eines Baumes, den ein Passant aus einem plötzlichen Impuls heraus zurechtbiegt, damit er leicht wieder anwachsen kann.
    In diesen grauenvollen Zeiten, in

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