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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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kein eingebildeter, der aus den Geräuschen, den Fetzen von Licht und Dunkel, der Herzensangst geboren war. Katja fragte: »Wer ist da?«
    »Ich bin’s, einer von uns«, antwortete die Dunkelheit.
    18
    »Heute gibt’s keinen Sturmangriff. Grekow hat ihn auf morgen Nacht verschoben. Heute greifen die Deutschen selbst die ganze Zeit an. Übrigens, was ich noch sagen wollte, diese ›Kartause‹ da hab ich gar nicht gelesen.«
    Sie antwortete nicht.
    Er versuchte, sie im Dunkeln zu erspähen; das Feuer einer Detonation kam ihm zu Hilfe und erleuchtete ihr Gesicht. Nur eine Sekunde, dann war es wieder stockdunkel, und sie warteten schweigend auf die nächste Explosion, den nächsten Feuerschein Sergej nahm ihre Hand. Er presste ihre Finger zusammen. Es war das erste Mal, dass er die Hand eines Mädchens hielt.
    Die schmutzige, verlauste Funkerin saß ganz still; ihr Hals leuchtete weiß im Dunkeln.
    Beim Feuerschein einer Rakete neigten sich ihre Köpfe zueinander. Er nahm sie in die Arme, und sie kniff die Augen zu, beide kannten den Spruch aus der Schule: Wer mit offenen Augen küsst, der liebt nicht.
    »Das ist doch nicht nur so zum Spaß, oder?«, fragte er.
    Sie nahm sanft seine Schläfen in ihre Hände und drehte seinen Kopf zu sich herum.
    »Das ist fürs ganze Leben«, sagte er feierlich.
    »Komisch«, sagte sie, »jetzt habe ich Angst, es kommt einer und vorhin hätte ich alles darum gegeben, wenn nur irgendwer gekommen wäre: Ljachow, Kolomeizew, Subarew …«
    »Grekow«, half er ihr.
    »O nein«, wehrte sie ab.
    Er küsste ihren Hals und tastete nach dem Metallknopf mit dem Stern an ihrer Militärbluse, knöpfte ihn auf und berührte mit den Lippen ihr mageres Schlüsselbein; ihre Brust wagte er nicht zu küssen. Sie streichelte seine strohigen, ungewaschenen Haare, als sei er ein Kind und als wisse sie bereits, dass das was nun kam, unvermeidlich war, dass es so und nicht anders kommen musste.
    Er schaute auf das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr.
    »Wer führt euch morgen?«, fragte sie. »Grekow?«
    »Was soll das? Wir gehen allein, wir brauchen keinen Führer«
    Er umarmte sie wieder, und plötzlich wurden seine Finger kalt, wurde es in seinem Herzen kalt vor Entschlossenheit und Erregung. Sie saß zurückgelehnt auf dem Mantel und schien nicht zu atmen. Er streichelte den groben, sich staubig anfühlenden Stoff ihrer Bluse und ihres Rocks, die rauen Stiefelschäfte, suchte mit der Hand die Wärme ihres Körpers. Sie wollte sich aufsetzen, doch er begann sie zu küssen. Wieder flammte ein Licht auf und erleuchtete für einen Augenblick Katjas heruntergefallene Feldmütze auf dem Backsteingeröll und ihr Gesicht, das ihm in diesem Augenblick fremd erschien. Dann war es wieder dunkel, irgendwie ganz besonders dunkel …
    »Katja?«
    »Was ist?«
    »Nichts, ich wollte nur deine Stimme hören. Warum schaust du mich denn nicht an?«
    »Lass doch, bitte, sei still.«
    Sie dachte an ihn und an ihre Mutter – fragte sich, wen sie lieber hatte. »Verzeih mir«, sagte sie.
    Er verstand nicht und sagte: »Hab keine Angst; das ist für immer, fürs ganze Leben, wenn wir es nicht verlieren.«
    »Ich hab Mama gemeint.«
    »Meine Mama ist tot. Ich weiß jetzt erst, dass sie Vater in die Verbannung nachgeschickt worden ist.«
    Sie schliefen auf dem Mantel ein, eng umschlungen, und so fand sie der Hausverwalter. Der Kopf des Granatwerferschützen Schaposchnikow lag auf der Schulter der Funkerin, sein Arm umschlang ihren Rücken, als fürchtete er, sie zu verlieren. Grekow glaubte, beide seien tot, so still und reglos lagen sie da.
    Bei Morgengrauen schaute Ljachow in den abgetrennten Kellerraum und schrie: »He, Schaposchnikow, he, Wengrowa, zum Hausverwalter, aber ein bisschen plötzlich, im Laufschritt, marsch, marsch!«
    Grekows Gesicht im diesigen kalten Zwielicht war von unerbittlicher Härte. Er hatte sich mit der Schulter an die Wand gelehnt, die verfilzten Haare hingen ihm in die niedrige Stirn.
    Sie standen vor ihm, unruhig von einem Fuß auf den anderen tretend, und bemerkten selbst nicht, dass sie Hand in Hand dastanden.
    Grekow bewegte die breiten Nüstern seiner platten Löwennase und sagte: »Folgendes, Schaposchnikow: Du begibst dich sofort zum Regimentsstab; ich kommandiere dich ab.«
    Serjoscha fühlte, wie die Finger des Mädchens zitterten, und presste sie zusammen, und sie spürte, wie auch seine Finger zitterten. Er schluckte, Zunge und Gaumen waren wie ausgedörrt.
    Stille lag über dem bewölkten

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