Leben und Schicksal
sämtlicher Meere und Wolken löschen und nicht mit der Handvoll Tautropfen, die von den Zeiten der Evangelisten bis zum heutigen, vom Eisen beherrschten Tag gesammelt wurden.
So habe ich den Glauben verloren, das Gute in Gott, in der Natur zu finden, und verliere nun auch den Glauben an die Güte.
Je weiter sich mir aber die Finsternis des Faschismus eröffnet hat, desto klarer habe ich erkannt – das Menschliche ist unausrottbar; es existiert in den Menschen selbst noch am Rande der blutigen Lehmgrube, an der Tür zur Gaskammer.
Ich habe meinen Glauben in der Hölle gehärtet. Mein Glaube ist aus dem Feuer der Verbrennungsöfen geboren, hat den Beton der Gaskammern durchstoßen. Ich habe erkannt, dass nicht der Mensch machtlos ist gegenüber dem Bösen, sondern das mächtige Böse ist machtlos gegenüber dem Menschen. In der Ohnmacht der gedankenlosen Güte liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit. Sie ist unbesiegbar. Je einfältiger, unbedachter und hilfloser sie ist, desto mächtiger ist sie. Vor ihr schwindet die Macht des Bösen: Propheten, Prediger, Reformatoren, Führer – sie alle sind ihr gegenüber machtlos. Sie ist die blinde, stumme Liebe – der Sinn des Menschen.
Die Geschichte der Menschen war nicht die Schlacht des Guten, das das Böse bezwingen will. Die Geschichte eines Menschen ist die Schlacht des großen Bösen, das das Körnchen Menschlichkeit zermahlen will. Wenn selbst unter den heutigen Bedingungen das Menschliche im Menschen nicht abgetötet werden kann, dann kann und wird das Böse niemals den Sieg davontragen.«
Als Mostowskoi zu Ende gelesen hatte, saß er einige Minuten mit halbgeschlossenen Augen da.
Ja, das waren die Worte eines erschütterten Menschen, es war die Katastrophe eines armseligen Geistes!
»Sagt doch der Schwachkopf, der Himmel ist leer … das Leben – ein Kampf jedes gegen jeden. Und zum Schluss säuselt er noch von der Güte alter Frauen und will den Weltenbrand mit der Klistierspritze löschen. Wie jämmerlich das alles ist!«
Mostowskoi betrachtete die graue Wand der Einzelzelle und erinnerte sich dabei plötzlich an den blauen Sessel und das Gespräch mit Liss. Ihn überkam Schwermut. Nicht der Kopf wurde bleischwer, sondern das Herz. Er konnte kaum atmen. Offenbar hatte er Ikonnikow zu Unrecht verdächtigt. Die Ergüsse dieses armseligen Narren waren nicht nur bei ihm auf Verachtung gestoßen, sondern auch bei seinem ekelhaften nächtlichen Gesprächspartner. Wieder dachte er an seine Gefühle für Tschernezow und an die Verachtung und den Hass, mit denen der Gestapo-Mann über ähnliche Leute hergezogen war. Die unklare Beklommenheit, die sich seiner bemächtigt hatte, erschien ihm schwerer zu ertragen als alles physische Leid.
17
Serjoscha Schaposchnikow deutete auf das Buch, das neben dem Rucksack auf den Ziegelsteinen lag, und fragte: »Hast du’s gelesen?«
»Wiedergelesen.«
»Gefällt’s dir?«
»Dickens mag ich lieber.«
»Ach, Dickens …«
Seine Stimme klang spöttisch, von oben herab.
»Und ›Die Kartause von Parma‹, gefällt dir das?«
»Nicht besonders«, antwortete er nach kurzem Nachdenken und fuhr hastig fort: »Heute soll ich mit den anderen Infanteristen die Deutschen aus dem Nachbarhaus vertreiben.« Er fing ihren Blick auf und ergänzte: »Befehl von Grekow, natürlich.«
»Und die anderen Granatwerferschützen, Tschenzow?«
»Nein, nur ich.«
Sie schwiegen.
»Will er was von dir?«
Sie nickte.
»Und du?«
»Das weißt du doch«, sagte sie ärgerlich und dachte an die armen Asra.
»Ich glaube, heute erwischt’s mich.«
»Warum sollst du mit der Infanterie gehen, du bist doch Granatwerferschütze?«
»Und warum hält er dich hier fest? Das Funkgerät ist beim Teufel. Man hätte dich längst zum Regiment und überhaupt ans linke Ufer zurückschicken müssen. Du kannst doch hier nichts mehr tun.«
»Dafür sehen wir uns jeden Tag.«
Er winkte ab und ging.
Katja schaute sich um. Aus dem ersten Stock grinste Buntschuk herunter. Offenbar hatte ihn auch Schaposchnikow bemerkt und sich deshalb so plötzlich entfernt.
Den ganzen Tag stand das Haus unter deutschem Artilleriebeschuss. Es gab drei Leichtverletzte; eine Innenwand stürzte ein und verschüttete den Kellerausgang; er wurde wieder freigelegt, aber kurz darauf warf ein weiteres Geschoss wieder ein Stück Mauer drauf, und der Kellerausgang musste aufs Neue freigelegt werden.
Anziferow fragte in das staubige Halbdunkel hinunter: »He, Genossin Funkerin,
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