Leben und Schicksal
Essensträger kämen, die »Kostrigi«, wie sie von den russischen Blockbewohnern genannt wurden.
Die Gemeinsamkeit im Schicksal der Lagermenschen war aus ihren unterschiedlichen Leben entstanden. Ob sich der Blick in die Vergangenheit mit einem Gärtchen an einer staubigen italienischen Straße verband, mit dem bedrohlichen Tosen der Nordsee oder mit dem orangefarbenen Papierlampenschirm im Haus der Führungskader am Rande von Bobruisk – bei allen Häftlingen war es dasselbe: Die Vergangenheit war schön.
Je schwerer das Leben eines Menschen vor der Inhaftierung gewesen war, umso eifriger log er. Diese Lüge diente keinem praktischen Zweck, sie diente der Verherrlichung der Freiheit: Ein Mensch außerhalb des Lagers konnte nicht unglücklich sein.
Dieses Lager galt vor dem Krieg als Lager für politische Straftäter.
Der Nationalsozialismus hatte einen neuen Typus politischer Häftlinge hervorgebracht – Straftäter, die kein Verbrechen begangen hatten.
Viele Häftlinge waren ins Lager geraten, weil sie in Gesprächen mit Freunden Kritik am Hitlerregime geübt oder einen politischen Witz erzählt hatten. Sie hatten keine Flugblätter verteilt, keinen Untergrundparteien angehört. Ihre Schuld bestand darin, dass sie all dies hätten tun können.
Die Inhaftierung von Kriegsgefangenen in politischen Konzentrationslagern war ebenfalls eine Neueinführung des Faschismus. Da gab es englische und amerikanische Flieger, die über deutschem Gebiet abgeschossen worden waren, und Kommandeure und Kommissare der Roten Armee, für die sich die Gestapo interessierte. Sie verlangte von ihnen Aufklärung, Mitarbeit, Beratung und die Unterschrift unter alle möglichen Deklarationen.
Im Lager befanden sich Saboteure – »Drückeberger«, die versucht hatten, eigenmächtig die Arbeit in Rüstungsbetrieben und auf militärischen Baustellen niederzulegen. Dass Arbeiter für schlechte Arbeit in Konzentrationslager eingesperrt wurden, war auch eine Erfindung des Nationalsozialismus.
Im Lager gab es Menschen mit fliederfarbenen Streifen auf den Jacken, deutsche Emigranten, die aus dem faschistischen Deutschland geflohen waren. Auch das war eine Neueinführung des Faschismus: Einer, der Deutschland verlassen hatte, wurde zum politischen Feind, auch wenn er sich im Ausland noch so loyal verhalten hatte.
Die Leute mit grünen Streifen auf den Jacken, die Diebe und Einbrecher, gehörten im politischen Lager zu den Privilegierten: Die Kommandantur stützte sich auf sie bei der Beaufsichtigung der politischen Häftlinge.
Auch die Macht der Kriminellen über die politischen Gefangenen war etwas Neues.
Es gab Menschen im Lager, deren Schicksal so seltsam war, dass man keine Farbe gefunden hatte, die einem solchen Schicksal entsprochen hätte. Doch auch dem indischen Schlangenbeschwörer, dem Perser, der aus Teheran gekommen war, um deutsche Malerei zu studieren, und dem chinesischen Physikstudenten hatte der Nationalsozialismus einen Platz auf den Pritschen, einen Napf trüber Wassersuppe und zwölf Stunden Arbeit auf der Pflanzung bereitgestellt.
Tag und Nacht waren die Massentransporte zu den Todeslagern, zu den Konzentrationslagern unterwegs. Die Luft war erfüllt vom Rattern der Räder, vom langgezogenen Pfeifen der Lokomotiven, vom Stampfen der Stiefel Hunderttausender von Lagerinsassen mit fünfstelligen blauen Nummern auf der Kleidung, die zur Arbeit gingen. Die Lager wurden zu Städten des Neuen Europa. Sie wuchsen und breiteten sich aus mit ihren Planierungen, ihren Gassen und Plätzen, ihren Krankenhäusern und Ramschmärkten, ihren Krematorien und Stadien.
Wie naiv und sogar gutmütig-patriarchalisch wirkten die an den Rand der Städte verbannten alten Gefängnisse im Vergleich zu diesen Lager-Städten, im Vergleich zu dem purpur-schwarzen Widerschein über den Krematoriumsöfen, dem Widerschein des Grauens.
Man hätte glauben können, zur Leitung der unübersehbaren Masse Unterdrückter wären riesige, beinahe millionenstarke Armeen von Aufsehern nötig gewesen. Doch das war ein Irrtum. In den Baracken erschienen wochenlang keine Männer in SS-Uniform. Die Gefangenen selbst hatten den Polizeischutz in den Lager-Städten übernommen. Die Gefangenen selbst sorgten für die innere Ordnung in den Baracken, sorgten dafür, dass in ihren Näpfen nur verfaulte und erfrorene Kartoffeln landeten, die großen, guten aber aussortiert und in die Versorgungsbasen der Armee geschafft wurden.
Die Gefangenen waren Ärzte und
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