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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Den einen ruft der Aufseher an die Tür – es stellt sich heraus, dass der Kamerad ihm den günstigen Tausch seiner Tabakration gegen die Essensportion vorschlägt, und befriedigt grinsend kehrt der Mann zu seiner Pritsche zurück. Den Nächsten ruft er genauso; der geht mitten aus einem Gespräch zur Tür, und sein Gesprächspartner braucht das Ende der Erzählung gar nicht mehr abzuwarten. Knappe vierundzwanzig Stunden später kommt ein Kapo zu der Pritsche, befiehlt dem Aufseher, die Lumpen einzusammeln, und irgendwer erkundigt sich beim Stubenältesten Keise, ob man die frei gewordene Pritsche belegen könne. Mostowskoi hatte sich längst an den ungeheuren Wirrwarr ihrer Gespräche gewöhnt: Man sprach von der »Selektion«, den Krematoriumsöfen, den Fußballmannschaften des Lagers: Die beste ist die der Moorsoldaten von der Pflanzung, die vom Revier ist auch nicht schlecht, die von den Küchen haben einen guten Stürmer, die polnische Mannschaft hat eine miserable Verteidigung. Die dutzend- und hundertfachen Gerüchte über neue Waffen und Zwistigkeiten unter den nationalsozialistischen Anführern waren gang und gäbe. Die Gerüchte waren immer schön und falsch – Opium für das Lagervolk.
    4
    Gegen Morgen hatte es geschneit, und der Schnee war bis zum Mittag liegen geblieben. Die Russen empfanden Freude und Trauer, Russland wehte zu ihnen herüber, breitete unter ihren armen, zermarterten Füßen sein mütterliches Tuch aus, bedeckte die Barackendächer mit reinem Weiß. Von weitem sahen diese ganz vertraut aus, wie im Dorf daheim.
    Aber diese Freude, die für einen Augenblick aufgeleuchtet hatte, vermischte sich im Nu mit Traurigkeit, ertrank in Traurigkeit.
    Der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst, der spanische Soldat Andrea, kam zu Mostowskoi und sagte in gebrochenem Französisch, dass sein Kamerad, der Schreiber, einen Brief gesehen habe, in dem von einem älteren Russen die Rede war, dass der Schreiber ihn jedoch nicht habe lesen können, weil der Kanzleivorsteher das Papier an sich genommen habe.
    »Auf diesem Papier steht wohl die Entscheidung über mein Leben«, dachte Mostowskoi und freute sich über seine Ruhe.
    »Keine Sorge«, flüsterte Andrea, »wir kriegen es schon noch heraus.«
    »Vom Lagerkommandanten?«, fragte Guardi, und seine riesigen Augen glänzten schwarz im Halbdunkel. »Oder vom Vertreter der Sicherheitshauptverwaltung Liss persönlich?«
    Mostowskoi wunderte sich, wie verschieden Guardis Wesen bei Tag und bei Nacht war. Tagsüber redete der Geistliche über die Suppe, über die Neuankömmlinge, sprach mit den Nachbarn den Tausch von Essensportionen ab, schwelgte in Erinnerungen an das scharfe, mit Knoblauch gewürzte italienische Essen.
    Die kriegsgefangenen Rotarmisten kannten seinen Lieblingsspruch »Tutti caputti«; wenn sie ihn auf dem Lagerplatz trafen, schrien sie ihm schon von weitem zu: »Papascha Padre, tutti caputti«, und lächelten, so als hätten ihnen diese Worte Hoffnung gemacht. Sie nannten ihn »Papascha Padre« in der Meinung, »Padre« sei sein Vorname.
    Eines späten Abends zogen die im Sonderblock verwahrten sowjetischen Kommandeure und Kommissare Guardi damit auf, ob er denn wirklich das Gelöbnis der Ehelosigkeit eingehalten habe.
    Guardi hörte, ohne zu lächeln, dem Kauderwelsch aus französischen, deutschen und russischen Brocken zu.
    Dann sprach er, und Mostowskoi übersetzte seine Worte. Die russischen Revolutionäre seien ja auch um einer Idee willen in die Katorga und aufs Schafott gegangen. Weshalb also zweifelten seine Gesprächspartner daran, dass ein Mann um einer religiösen Idee willen auf die vertraute Nähe zu einer Frau verzichten könne? Solch ein Verzicht sei doch nicht vergleichbar mit dem Opfer des Lebens.
    »Na, sagen Sie das nicht«, meinte der Brigadekommissar Ossipow.
    Nachts, wenn die Lagerinsassen eingeschlafen waren, wurde Guardi ein anderer. Er kniete auf seiner Pritsche und betete. Es schien, als könne alles Leiden der Lagerstadt in seinen leidenschaftlichen Augen, in ihrer gewölbten, samtenen Schwärze versinken. Die Adern spannten sich unter der braunen Haut seines Halses an, als arbeite er angestrengt, sein langes, apathisches Gesicht bekam einen glückseligen, wenn auch schwermütigen Ausdruck und war zugleich von Entschlossenheit erfüllt. Lange betete er, Michail Sidorowitsch schlief unter dem leisen, schnellen Geflüster des Italieners ein und wachte gewöhnlich nach eineinhalb bis zwei Stunden wieder auf; dann

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