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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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erklären, dass auch dieses Lager um des Guten willen da ist.«
    Während dieser Streitgespräche mit Ikonnikow schien es Mostowskoi, als wären alle seine logischen Argumente so wirkungsvoll wie Messerstiche, mit denen man einer Medusa beizukommen sucht.
    »Die Welt ist zu keiner höheren Wahrheit gelangt als zu der, die ein syrischer Christ im sechsten Jahrhundert ausgesprochen hat«, wiederholte Ikonnikow. »›Verurteile die Sünde und vergib dem Sünder.‹«
    In der Baracke lebte noch ein anderer alter Russe – Tschernezow. Er war einäugig. Der Wachsoldat hatte ihm das Glasauge zerschlagen, und die leere rote Augenhöhle gab seinem bleichen Gesicht etwas Grauenvolles. Wenn er sich mit jemandem unterhielt, verdeckte er die gähnend leere Augenhöhle mit der Hand.
    Er war ein Menschewik, der 1921 aus dem sowjetischen Russland geflohen war. Zwanzig Jahre hatte er in Paris gelebt und als Buchhalter in einer Bank gearbeitet. Ins Lager war er gekommen, weil er die Bankangestellten zum Boykott gegen die neue deutsche Verwaltung aufgerufen hatte. Mostowskoi ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg.
    Dem einäugigen Menschewiken schien Mostowskois Beliebtheit sehr zu missfallen. Alle, sowohl der spanische Soldat als auch der norwegische Inhaber eines Schreibwarenladens oder der belgische Rechtsanwalt, suchten die Gesellschaft des alten Bolschewiken, alle fragten ihn aus.
    Einmal setzte sich Major Jerschow, der unter den russischen Kriegsgefangenen das große Wort führte, zu Mostowskoi auf die Pritsche, rückte noch ein Stückchen näher an ihn heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und redete schnell und heftig auf ihn ein.
    Plötzlich sah sich Mostowskoi um; von seiner entfernten Pritsche aus beobachtete sie Tschernezow. Mostowskoi dachte, dass die Traurigkeit, die in dem sehenden Auge zu lesen war, noch viel schrecklicher war als das rote Loch, das an der Stelle des ausgeschlagenen Auges klaffte.
    »Ja, Bruder, dir ist nicht froh zumute«, dachte Mostowskoi und empfand dabei keine Schadenfreude.
    Es war natürlich kein Zufall, sondern geradezu ein Gesetz, dass alle ständig nach Jerschow Ausschau hielten. Wo ist Jerschow? Habt ihr Jerschow nicht gesehen? Genosse Jerschow! Major Jerschow! Jerschow hat gesagt … Frag Jerschow … Sie kamen aus den anderen Baracken zu ihm, um seine Pritsche herum war immer Betrieb.
    Michail Sidorowitsch hatte Jerschow »Meister der Gedanken« getauft. Solche Meister der Gedanken hatte es auch früher schon gegeben, die der sechziger und die der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, es hatte die Narodniki gegeben und Michailowski, der auch wieder verschwunden war. Und nun gab es im Hitler’schen Konzentrationslager einen eigenen Meister der Gedanken! Die Einsamkeit des Einäugigen wirkte in diesem Lager wie ein tragisches Symbol.
    Jahrzehnte waren vergangen, seit Michail Sidorowitsch zum ersten Mal in einem zaristischen Gefängnis gesessen hatte, sogar das Jahrhundert war damals ein anderes gewesen – das neunzehnte.
    Jetzt erinnerte er sich daran, wie es ihn gekränkt hatte, dass ihm einige Parteiführer nicht die Fähigkeit zugetraut hatten, praktische Arbeit zu leisten. Er fühlte sich stark; jeden Tag spürte er, welches Gewicht seine Worte für General Guds, den Brigadekommissar Ossipow und den ewig deprimierten und traurigen Major Kirillow hatten.
    Vor dem Krieg tröstete er sich damit, dass er als praxisferner Theoretiker kaum je mit dem in Berührung kam, was in ihm Protest und Missbilligung hervorrief – die Alleinherrschaft Stalins in der Partei, die blutigen Prozesse gegen die Opposition und der Mangel an Respekt vor der alten bolschewistischen Garde. Die Hinrichtung Bucharins, den er gut gekannt und sehr gern gehabt hatte, hatte ihn tief getroffen. Doch er wusste, dass er sich, falls er sich in einem dieser Kritikpunkte gegen die Partei stellte, auch, und zwar gegen seine Absicht, gegen die Sache Lenins stellen müsste, der er sein Leben verschrieben hatte. Manchmal quälten ihn Zweifel. Hatte er nur aus Schwäche, aus Angst geschwiegen und nur deshalb nicht offen gesagt, dass er mit alldem nicht einverstanden war? Vieles in der Vorkriegszeit war doch wirklich furchtbar gewesen! Oft erinnerte er sich an den verstorbenen Lunatscharski – wie gern würde er ihn wiedersehen. Man konnte sich mit ihm so gut unterhalten; eine Andeutung genügte, und schon verstand man einander.
    Jetzt, in dem schrecklichen deutschen Lager, fühlte er sich sicher und stark. Er wurde

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