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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Bakteriologen in Lagerkrankenhäusern und Lagerlaboratorien, sie waren Hausmeister, die das Lagertrottoir fegten, sie waren Ingenieure, die Licht und Wärme im Lager regelten und für die Wartung der Lagermaschinen verantwortlich waren.
    Die Kapos, die grausamen und rührigen Lagerpolizisten, die über dem linken Ärmel eine breite gelbe Armbinde trugen, die Lager-, Block- und Stubenältesten – sie hatten den gesamten Ablauf des Lagerlebens ihrer Kontrolle unterstellt, von allgemeinen Angelegenheiten des Lagers angefangen bis zu den allerprivatesten Dingen, die sich nachts auf den Pritschen abspielten. Die Häftlinge hatten Zugang zu den geheimsten Vorgängen des Lagerstaates – sogar zur Aufstellung der Selektionslisten und zur »Bearbeitung« der Untersuchungsgefangenen in den »Dunkelkammern« – kleinen Betonkäfigen. Wäre das Kommando verschwunden, dann hätten die Häftlinge wohl selbst den Hochspannungsstrom im Stacheldraht weiter fließen lassen, damit nicht alle auseinanderliefen, sondern weiterarbeiteten.
    Diese Kapos und die Blockältesten dienten dem Kommandanten, und doch seufzten und weinten sie manchmal über jene, die sie zu den Krematoriumsöfen abführten … Allerdings trieben sie diese Gespaltenheit nicht bis zur letzten Konsequenz: Ihre eigenen Namen setzten sie nicht auf die Selektionslisten. Besonders schlimm erschien Michail Sidorowitsch, dass der Nationalsozialismus nicht volksfremd mit der Arroganz eines Junkers mit Monokel im Auge ins Lager trat. Der Nationalsozialismus lebte ganz selbstverständlich in den Lagern; er setzte sich nicht vom einfachen Volk ab, er machte volkstümliche Witze, über die man lachte, er war Plebejer und gab sich einfach, er kannte eben Sprache, Seele und Geist derer, denen er die Freiheit geraubt hatte.
    3
    Mostowskoi, Agrippina Petrowna, die Feldärztin Lewinton und der Fahrer Semjonow waren von den deutschen Soldaten, die sie in einer Augustnacht am Rande von Stalingrad gefangen genommen hatten, zum Stab der Infanteriedivision gebracht worden.
    Agrippina Petrowna wurde damals nach einem kurzen Verhör freigelassen; der Dolmetscher hatte ihr, auf Anweisung des Feldgendarmen, einen Laib Erbsenbrot und zwei rote Dreißigrubel-Scheine zugesteckt. Semjonow teilte man der Gefangenenkolonne zu, die ins Stalag im Bezirk des Vorwerks von Wertjatschi transportiert werden sollte. Mostowskoi und Sofja Ossipowna Lewinton wurden zum Stab der Heeresgruppe gebracht.
    Dort hatte Mostowskoi Sofja Ossipowna zum letzten Mal gesehen. Sie stand in der Mitte des staubigen Hofs, ohne Feldmütze, die Rangabzeichen waren von der Uniform abgerissen, und der düstere, hasserfüllte Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Augen erregte in Mostowskoi Entzücken und Bewunderung.
    Nach dem dritten Verhör trieben sie Mostowskoi zu Fuß zur Bahnstation, wo ein Güterzug mit Getreide beladen wurde. Zehn Waggons waren zur Beförderung junger Mädchen und Burschen abgestellt worden, die man zur Arbeit in Deutschland eingeteilt hatte – Mostowskoi hörte Frauenschreie, als der Transport abfuhr. Er wurde in ein kleines Dienstabteil in einem Waggon zweiter Klasse gesperrt. Der ihn begleitende Soldat war nicht grob, doch wenn Mostowskoi Fragen stellte, nahm sein Gesicht den Ausdruck eines Taubstummen an. Dennoch spürte man, dass er ausschließlich mit Mostowskoi beschäftigt war. So bewacht ein erfahrener Zoowärter schweigend und angespannt die Kiste, in der sich das ihm anvertraute Tier während der Bahnfahrt unruhig hin und her bewegt. Als der Zug über das Territorium des polnischen Generalgouvernements fuhr, kam ein neuer Fahrgast ins Abteil – ein polnischer Bischof, ein grauhaariger, hochgewachsener, schöner Mann mit tragischen Augen und vollem, jünglingshaftem Mund. Er begann sogleich, Mostowskoi von den Gewaltakten zu erzählen, die Hitler am polnischen Klerus verübt hatte. Er sprach Russisch mit starkem Akzent. Nachdem Mostowskoi auf die katholische Kirche und den Papst geschimpft hatte, verstummte er und antwortete auf dessen Fragen nur noch einsilbig und auf Polnisch. Ein paar Stunden später wurde er in Posen aus dem Zug geholt.
    Mostowskoi wurde unter Umgehung von Berlin ins Lager gebracht. Es schien ihm, als hätte er schon Jahre in dem Block verbracht, in dem die für die Gestapo besonders interessanten Gefangenen verwahrt wurden. Im Sonderblock herrschte kein solches Hungerleben wie im Arbeitslager, doch war es das leichte Leben von Versuchstieren, die Märtyrer werden sollten.

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