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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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schlief Guardi schon. Der Italiener schlief heftig, im Schlaf gleichsam seine beiden Wesenshälften, die des Tages und die der Nacht, verschmelzend, er schmatzte mit den Lippen, knirschte mit den Zähnen, ließ donnernd Winde fahren, dann sprach er plötzlich wieder wunderbar getragene Gebetsworte über die Barmherzigkeit Gottes und der heiligen Mutter Maria.
    Niemals machte er dem alten russischen Kommunisten wegen seines Unglaubens Vorhaltungen, sondern fragte ihn oft über die Sowjetunion aus.
    Der Italiener nickte, wenn er Mostowskoi zuhörte, so als billige er die Erzählungen über geschlossene Kirchen und Klöster, über den riesigen Grundbesitz, den der Sowjetstaat dem Synod genommen hatte.
    Seine schwarzen Augen ruhten traurig auf dem alten Kommunisten, und Michail Sidorowitsch fragte ärgerlich:
    »Vous me comprenez?«
    Guardi lächelte sein gewohntes Alltagslächeln, mit dem er über Ragout und Tomatensauce zu sprechen pflegte.
    »Je comprends tout ce que vous dites, je ne comprends pas seulement, pourquoi vous dites cela.«
    Die im Sonderblock untergebrachten russischen Kriegsgefangenen waren nicht von der Arbeit befreit, deshalb traf sich Mostowskoi nur in den späten Abend- und Nachtstunden zum Gespräch mit ihnen. Nicht zur Arbeit gingen General Guds und Brigadekommissar Ossipow.
    Häufiger Gesprächspartner Mostowskois war ein seltsamer Mensch unbestimmbaren Alters, Ikonnikow-Morsch. Er schlief am schlechtesten Platz der ganzen Baracke, neben der Tür, wo er im kalten Durchzug lag und wo auch ein riesiger Kübel mit Ohrenhenkeln und schepperndem Deckel stand – die Latrine.
    Die russischen Häftlinge nannten Ikonnikow-Morsch den »Latrinenalten«, hielten ihn für schwachsinnig und behandelten ihn mit geringschätzigem Mitleid. Er besaß eine unglaubliche Widerstandskraft, wie sie sonst nur Schwachsinnigen und Idioten eigen ist. Nie erkältete er sich, obwohl er die vom Herbstregen durchnässten Kleider nicht auszog, wenn er sich schlafen legte. Es schien, als könne tatsächlich nur ein Schwachsinniger mit einer solch klaren, hellklingenden Stimme sprechen.
    Mit Mostowskoi schloss Ikonnikow-Morsch folgendermaßen Bekanntschaft: Er trat an Mostowskoi heran und schaute ihm lange schweigend ins Gesicht.
    »Was hat der Genosse Gutes zu sagen?«, fragte Michail Sidorowitsch und lächelte spöttisch, als Ikonnikow in singendem Tonfall meinte: »Gutes sagen? Aber was ist gut?«
    Diese Worte versetzten Michail Sidorowitsch in die Zeit seiner Kindheit, wenn der ältere Bruder aus dem Priesterseminar nach Hause kam und mit dem Vater ein Streitgespräch über theologische Probleme führte.
    »Das ist eine Frage mit langem Bart«, sagte Mostowskoi, »darüber dachten schon die Buddhisten und die ersten Christen nach. Und auch die Marxisten haben sich nicht wenig angestrengt, eine Antwort zu finden.«
    »Und, haben sie eine gefunden?«, fragte Ikonnikow in einem Tonfall, der Mostowskoi zum Lachen brachte.
    »Unsere Rote Armee«, sagte Mostowskoi, »die ist gerade dabei, eine zu finden. Aber in Ihrem Tonfall schwingt, mit Verlaub, etwas Salbungsvolles mit, schwer zu sagen, was es ist – etwas Popenhaftes oder auch Tolstojanisches.«
    »Wie sollte es auch anders sein?«, sagte Ikonnikow. »Ich war ja Tolstojaner.«
    »Aha, da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte Michail Sidorowitsch. Der sonderbare Mensch begann ihn zu interessieren.
    »Sehen Sie«, sagte Ikonnikow, »ich bin davon überzeugt, dass die Repressalien, mit denen die Bolschewiken nach der Revolution die Kirche belegten, der christlichen Idee von Nutzen waren, denn die Kirche befand sich vor der Revolution in einem erbärmlichen Zustand.«
    Michail Sidorowitsch erwiderte gutmütig: »Sie sind ja ein richtiger Dialektiker. Auf meine alten Tage ist es mir noch vergönnt, ein Wunder aus dem Evangelium zu erleben.«
    »Nein«, konterte Ikonnikow düster, »denn für Sie heiligt der Zweck die Mittel, Ihre Mittel aber sind erbarmungslos. In mir sehen Sie kein Wunder, ich bin kein Dialektiker.«
    »Ach so«, sagte Mostowskoi, plötzlich gereizt, »womit kann ich Ihnen denn sonst dienen?«
    Ikonnikow, in der Pose eines Soldaten in Habtachtstellung, antwortete: »Lachen Sie mich nicht aus!« Seine Stimme klang tragisch. »Ich bin nicht zum Witzemachen zu Ihnen gekommen. Am fünfzehnten September vorigen Jahres habe ich die Hinrichtung von zwanzigtausend Juden gesehen – Frauen, Kinder, Greise. An dem Tag habe ich begriffen, dass Gott so etwas nicht hätte

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