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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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zulassen können, und mir wurde klar, dass es Ihn nicht gibt. In der heutigen Finsternis sehe ich eure Kraft, sie kämpft mit dem furchtbaren Bösen.«
    »Na denn«, sagte Michail Sidorowitsch, »reden wir halt.«
    Ikonnikow arbeitete auf der Pflanzung im Sumpfgebiet der zum Lager gehörenden Ländereien, wo ein System riesiger Betonröhren verlegt wurde, das den Fluss und die schmutzigen Bächlein, die die Niederung sumpfig machten, ableiten sollte. Die Arbeiter in diesem Bereich hießen »Moorsoldaten«; gewöhnlich wurden hier die Leute eingesetzt, die der Lagerleitung besonders missliebig waren.
    Ikonnikows Hände waren klein; dünne Finger und kindliche Fingernägel. Er war lehmverschmiert und nass von der Arbeit zurückgekommen, ging zu Mostowskois Pritsche und fragte:
    »Erlauben Sie, dass ich mich neben Sie setze?«
    Er setzte sich, lächelte und strich sich, ohne seinen Gesprächspartner anzusehen, über die Stirn. Seine Stirn war irgendwie merkwürdig – nicht besonders groß, gewölbt, hell, so hell, als existiere sie getrennt von den schmutzigen Ohren, den Händen mit den abgebrochenen Fingernägeln und dem dunkelbraunen Hals.
    In den Augen der russischen Kriegsgefangenen, Menschen von einfacher Herkunft, war er ein obskurer und unverständlicher Zeitgenosse.
    Ikonnikows Vorfahren waren seit Peter dem Großen von einer Generation zur andern Geistliche gewesen. Erst die letzte Generation der Ikonnikows schlug einen anderen Weg ein; alle Brüder Ikonnikows erhielten, nach dem Wunsch des Vaters, eine weltliche Ausbildung.
    Ikonnikow hatte am Technischen Institut in Petersburg studiert, war dann aber begeisterter Tolstoi-Anhänger geworden. Im letzten Studienjahr hatte er sein Studium abgebrochen und war als Volksschullehrer in den Norden des Permer Gouvernements gegangen. Er verbrachte ungefähr acht Jahre auf dem Lande, dann zog er nach Süden, nach Odessa, heuerte auf einem Frachter als Maschinist an, war in Indien, in Japan und lebte in Sydney. Nach der Revolution kehrte er nach Russland zurück und trat in eine bäuerliche Landkommune ein. Dies war schon lange sein Traum gewesen; er glaubte, dass die kommunistische Landarbeit zum Reich Gottes auf Erden führen werde.
    Während der allgemeinen Kollektivierung hatte er Transportzüge gesehen, die mit den Familien enteigneter Großbauern vollgestopft waren. Er hatte gesehen, wie abgezehrte Menschen in den Schnee fielen und nicht wieder aufstanden. Er hatte »geschlossene«, ausgestorbene Dörfer mit vernagelten Fenstern und Türen gesehen. Er hatte eine verhaftete Bäuerin gesehen, eine abgerissene Frau mit abgearbeiteten, dunklen Händen, an deren Hals die Adern hervortraten – die Leute aus dem Konvoi betrachteten sie voller Entsetzen: Sie hatte, vor Hunger wahnsinnig geworden, ihre beiden Kinder gegessen.
    In dieser Zeit begann er – ohne die Kommune zu verlassen – das Evangelium zu predigen und Gott um Rettung für die Opfer anzuflehen. Es endete damit, dass er eingesperrt wurde, doch stellte sich heraus, dass Elend und Schrecken der dreißiger Jahre seinen Verstand getrübt hatten. Nach einem Jahr Zwangsbehandlung in der Gefängnisnervenklinik kam er frei, zog nach Weißrussland zu seinem älteren Bruder, einem Biologieprofessor, und fand mit dessen Hilfe Arbeit in der technischen Bibliothek. Doch die düsteren Ereignisse hatten ihn für immer gezeichnet.
    Als der Krieg begann und die Deutschen Weißrussland erobert hatten, sah Ikonnikow die Qualen der Kriegsgefangenen, die Judenhinrichtungen in den Städten und Dörfern Weißrusslands. Er verfiel wieder in eine Art hysterischen Zustand und flehte Bekannte und Freunde an, die Juden zu verstecken. Er selbst versuchte, jüdische Kinder und Frauen zu retten. Bald wurde er angezeigt und geriet, wie durch ein Wunder vom Galgen verschont, ins Lager.
    Im Kopf des zerlumpten, dreckigen »Latrinenalten« herrschte das Chaos, er vertrat unsinnige, groteske Grundsätze einer Überklassenmoral.
    »Da, wo Gewalt ist«, erklärte Ikonnikow Mostowskoi, »herrscht Kummer und fließt Blut. Ich habe das große Leiden der Bauern gesehen, die Kollektivierung aber wurde im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte.«
    »Wir werden uns, Ihrem Rat folgend, darüber entsetzen, dass Hitler und Himmler im Namen des Guten aufgehängt werden. Ohne mich – ich werde mich nicht entsetzen«, erwiderte Michail Sidorowitsch.
    »Fragen Sie Hitler«, sagte Ikonnikow, »und er wird Ihnen

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