Leben und Schicksal
gemein, grausam, verzweifelt und gleichgültig.
Das Menschliche im Menschen geht dabei nicht selten gänzlich verloren, der Hungernde verliert alle Hemmungen, mordet, frisst Leichen und wird zum Kannibalen.
Der Staat kann Weizen und Roggen durch einen künstlichen Damm von denen fernhalten, die das Getreide gesät haben, und dadurch eine fürchterliche Seuche hervorrufen, wie ihr während der Hitler’schen Blockade Millionen Leningrader und wie ihr Millionen Gefangener hinter den Zäunen Hitler’scher Lager zum Opfer gefallen sind.
Essen! Nahrung! Speise! Was zu beißen! Fraß! Gewürze! Beilagen! Futter! Brühe! Braten! Fett! Fleisch! Diätkost! Armenkost! Üppige, reichliche, ausgesuchte, einfache, bäuerliche Kost! Speise! Fressen, Fressen …
Kartoffelschalen, Hunde, junge Frösche, Schnecken, faule Kohlblätter, verschimmelte Rüben, Pferdeaas, Katzenfleisch, Krähen und Dohlen, feuchtes, angekohltes Korn, Ledergürtel, Stiefelschäfte, Leim, die Erde vor der Offiziersküche, die vom Spülwasser getränkt ist – all das ist Fressen. Es ist das, was durch den Damm hindurchsickert.
Dieses Futter wird gesucht, geteilt, getauscht und gestohlen.
Am elften Tag der Reise, als der Zug eben auf der Station Chutor Michailowski stand, zog die Wache den besinnungslosen Semjonow aus dem Waggon und übergab ihn dem Bahnhofsvorsteher. Dieser, ein älterer Deutscher, betrachtete den halbtoten Rotarmisten, der an der Wand des Feuerwehrschuppens lehnte, und sagte dann zum Dolmetscher: »Er soll ins Dorf kriechen. In der Arrestzelle krepiert er in einem Tag, und zum Erschießen liegt kein Grund vor.«
Irgendwie gelangte Semjonow in das Dorf.
Bei der ersten Hütte hatte er kein Glück.
»Wir haben nix, geh weiter«, rief eine Greisenstimme aus dem Inneren der Hütte. Die Tür blieb verschlossen.
Am zweiten Haus klopfte er lange, niemand antwortete. Entweder war die Hütte verlassen oder von innen verriegelt.
Im dritten Haus stand die Tür halb offen; er trat in den Vorraum; da ihn niemand anrief, ging er weiter in die Stube.
Es schlug ihm warm entgegen. Schwindel und Schwäche übermannten ihn, und er musste sich auf die Bank neben der Tür setzen.
Semjonow atmete schwer und schnell, betrachtete die weißen Wände, die Ikonen, den Tisch, den Ofen. Nach all den Lagerhürden war dies für ihn ein überwältigender Anblick.
Am Fenster erschien ein Schatten, und gleich darauf trat eine Frau in die Stube. Als sie Semjonow gewahrte, schrie sie auf.
»Wer sind Sie?«
Er antwortete nicht. Es war klar, wer er war.
An diesem Tag entschieden keine erbarmungslosen Großmächte, sondern ein einzelner Mensch, die alte Christja Tschunjak, über Semjonows Leben und Schicksal.
Die Sonne schaute durch graue Wolken auf die vom Krieg heimgesuchte Erde herab, und der Wind, jener Wind, der über Schützengräben und befestigte Feuerstellungen, über die Stacheldrahtzäune der Lager, über Tribunale und Sonderabteilungen hinwegstrich – dieser Wind heulte leise unter dem Fenster der Hütte.
Die Frau gab Semjonow einen Krug Milch, und er begann zu trinken, mit gierigen, mühsamen Schlucken.
Kaum hatte er den Krug geleert, wurde ihm übel. Er wand sich in Krämpfen; das Wasser trat ihm aus den Augen; wie ein Sterbender zog er pfeifend die Luft ein und musste sich wieder und wieder übergeben.
Er versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Sein einziger Gedanke war: Sie wird mich rauswerfen, verkotzt und dreckig, wie ich bin.
Mit entzündeten Augen sah er, dass sie einen Lumpen brachte und aufzuwischen begann.
Er wollte ihr sagen, dass er alles selbst wegputzen würde, wenn sie ihn nur nicht wegjagte. Doch er konnte nur murmeln und mit zitternden Händen deuten. Die Zeit verging. Die Alte ging und kam. Sie jagte ihn nicht fort. Vielleicht hatte sie die Nachbarin gebeten, eine deutsche Patrouille zu holen oder die Militärpolizei zu rufen?
Die Hausfrau stellte einen gusseisernen Topf mit Wasser im Ofenrohr. Es wurde warm, über seiner Oberfläche sammelte sich Dampf. Das Gesicht der Alten wirkte finster und unfreundlich.
»Sie wird mich rauswerfen und hinterher alles desinfizieren«, dachte er.
Die Frau holte aus einer Truhe Wäsche und Hosen. Sie half Semjonow beim Ausziehen und wickelte seine Kleider zu einem Bündel zusammen. Der Geruch seines schmutzigen Körpers, seiner von Urin und blutigem Kot durchnässten Unterhose stieg ihm in die Nase.
Sie half ihm, sich in den Zuber zu setzen, und sein von Läusen zerfressener
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