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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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unmittelbar zurückliegende Zeit, an Kommissar Krymow, Stalingrad, das deutsche Lager und den Transport. Doch jede Nacht weinte und schrie er im Schlaf.
    Eines Nachts kroch er vom Ofen herunter und rollte sich unter der Schlafbank zusammen, wo er bis zum Morgen schlief. Als er erwachte, konnte er sich nicht erklären, was ihn zu dieser Flucht veranlasst hatte.
    Einige Male sah er Lastwagen mit Kartoffeln und Kornsäcken durch das Dorf fahren, eines Tages kam auch ein »Opel Kapitän«. Der Motor zog gut, die Räder drehten nicht im Schlamm der Dorfstraße durch.
    Sein Herz stockte bei der Vorstellung, dass gleich deutsche Stimmen im Vorraum ertönen und eine deutsche Patrouille in die Hütte eindringen würde.
    Er fragte die alte Christja nach den Deutschen.
    Sie antwortete: »Es gibt ganz ordentliche darunter. Als die Front bei uns durchkam, hatte ich zwei Deutsche im Haus – einen Studenten und einen Künstler. Sie spielten immer mit den Kindern. Dann hatte ich auch mal einen Chauffeur, der hatte eine Katze dabei. Kommt von einer Fahrt zurück, und die Katze läuft zu ihm hin, er gibt ihr Speck und Butter. Er hat erzählt, dass sie ihn seit der Grenze begleitet. Wenn er am Tisch saß, hielt er sie auf dem Arm. Auch zu mir war er immer sehr freundlich, hat mir Holz geschleppt und einmal sogar einen Sack Mehl gebracht. Aber es gibt auch Deutsche, die Kinder umbringen. Da, den Nachbarn von mir haben sie erschlagen. Die halten uns nicht für Menschen, scheißen mitten ins Haus und rennen im Beisein von Frauen ungeniert nackt herum. Bei uns gibt’s auch solche, Spitzel, hier im Dorf, die machen andere schlecht.«
    »Aber solche Bestien wie bei den Deutschen gibt’s bei uns nicht«, sagte Semjonow und fragte: »Haben Sie denn keine Angst, Tante Christja, wenn Sie mich hier verstecken?«
    Sie schüttelte den Kopf und meinte, im Dorf gäbe es viele entlassene Gefangene – Ukrainer zwar, die in ihre Heimat zurückgekehrt seien, doch sie könne ja sagen, er sei ihr Neffe, der Sohn ihrer Schwester, die mit ihrem Mann nach Russland gezogen war.
    Semjonow kannte bereits die Gesichter der Nachbarn, kannte auch die Alte, die ihm die Tür nicht geöffnet hatte. Er wusste, dass die Mädchen abends am Bahnhof ins Kino gingen, dass samstags in der Bahnstation ein Orchester zum Tanz aufspielte, Es hätte ihn sehr interessiert, was für Filme die Deutschen im Kino zeigten, doch zur alten Christja kamen nur alte Leute, die nicht ins Kino gingen, und so konnte er niemanden fragen.
    Die Nachbarin brachte einen Brief von ihrer Tochter, die sich nach Deutschland hatte anwerben lassen. Einige Stellen des Briefes verstand Semjonow nicht und musste sie sich erklären lassen. Die Tochter schrieb: »Wanka und Grischka sind angeflogen gekommen, haben die Fenster in Scherben geschlagen.« Wanka und Grischka dienten bei der Luftwaffe. Das hieß also, dass die deutsche Stadt, in der sie wohnte, von der sowjetischen Luftwaffe angegriffen worden war.
    An einer anderen Stelle schrieb sie: »Es hat so geregnet wie in Bachmatsch.« Das bedeutete ebenfalls, dass ein Luftangriff stattgefunden hatte. Zu Beginn des Krieges hatte es viele Angriffe auf die Station Bachmatsch gegeben.
    Am gleichen Abend kam ein hochgewachsener, magerer Alter zu Christja. Er musterte Semjonow und sagte in reinstem Russisch: »Und woher kommt unser Held?«
    »Ich bin Gefangener«, erwiderte Semjonow.
    »Das sind wir alle«, meinte der Alte.
    Er hatte unter Zar Nikolai gedient, war Artillerist gewesen und konnte Semjonow noch mit erstaunlicher Genauigkeit die Artilleriekommandos hersagen. Er gab die Befehle in heiserem Russisch, doch über die Ausführung berichtete er mit volltönender, junger Stimme und ukrainischem Akzent, ahmte also offenbar seine eigene Stimme und die seines Vorgesetzten nach, wie sie damals, vor vielen Jahren, geklungen haben mochten.
    Dann begann er auf die Deutschen zu schimpfen.
    Er erzählte Semjonow, die Leute hätten anfangs gehofft, die Deutschen würden die Kolchosen auflösen, doch hatten die leider nur allzu bald gemerkt, was für eine gute Sache diese Kolchosen für sie waren. Es wurden Arbeitsgruppen von je fünf oder zehn Häusern eingeführt, dieselben Arbeitstrupps und Brigaden wie unter der Sowjetregierung.
    Die alte Christja sagte mit gedehnter, trauriger Stimme: »Oh, diese Kolchosen!«
    Semjonow fragte: »Wieso denn? Kolchosen sind doch eine ganz normale Sache; wir haben doch überall Kolchosen.«
    Da fuhr ihn die alte Tschunjak an:

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