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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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»Du halt den Mund. Weißt du nicht mehr, wie’s um dich stand, als du zu mir kamst? Genauso ging’s der ganzen Ukraine im Jahre 1930. Brennnesseln haben wir gefressen, bis es auch die nicht mehr gab, dann Erde … Das Getreide hat man uns bis zum letzten Körnchen abgenommen. Mein Mann ist gestorben, aber was hat er durchmachen müssen! Ich war damals ganz aufgeschwemmt, konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr laufen.«
    Semjonow konnte es nicht fassen, dass die alte Christja gehungert haben sollte wie er. Es schien ihm, Hunger und Seuche könnten seiner guten Fee einfach nichts anhaben.
    »Wart ihr vielleicht Kulaken?«
    »Ach was, Kulaken. Das ganze Volk ist verreckt, schlimmer als im Krieg.«
    »Bist du denn vom Land?«, fragte der Alte.
    »Nein«, erwiderte Semjonow, »ich bin gebürtiger Moskauer, wie mein Vater.«
    »Siehst du«, sagte der Alte triumphierend, »wenn du damals hier gewesen wärst bei der Kollektivierung, du wärst eingegangen; die Städter sind gleich verreckt. Warum ich am Leben geblieben bin? Weil ich mich auskenne in der Natur. Du denkst vielleicht an Eicheln, Lindenblätter, Brennnesseln und Gänsefuß? O nein, die haben sie gleich restlos weggesammelt. Aber ich kenne sechsundfünfzig Pflanzen, die man essen kann. So hab ich überlebt. Kaum war der Frühling da, noch kein Blättchen zu sehen, da hab ich schon im Boden nach Wurzeln gegraben. Ich kenne alles, mein Freund! Jedes Blättchen, jedes Würzelchen, jede Blüte und jedes Kräutlein. Kühe, Schafe, Pferde, alles geht an Hunger zugrunde, aber ich nicht, ich bin ein besserer Grasfresser als die.«
    »Moskauer«, sagte Christja langsam. »Das hab ich nicht gewusst, dass du ein Moskauer bist.«
    Der Nachbar war gegangen, Semjonow hatte sich schlafen gelegt, doch Christja saß noch lange, die Wange in die Hand gestützt, und schaute durch das Fenster in die dunkle Nacht hinaus.
    Eine reiche Ernte hatten sie gehabt in jenem Jahr. Der Weizen stand wie eine dichte Wand, und hoch, ihrem Wassili ging er bis an die Schulter und ihr bis über den Kopf.
    Ein leises, langgezogenes Stöhnen lag damals über dem Dorf; lebende Skelette, Kinder, krochen über den Boden, leise winselnd. Männer mit aufgeschwemmten Beinen stolperten ziellos durch die Höfe, völlig entkräftet vom Hunger. Frauen suchten Essbares – alles war schon aufgegessen und gekocht – Nesseln, Eicheln, Lindenblätter, Hufe, die hinter den Hütten herumlagen, Knochen, Hörner, ungegerbte Schaffelle … Und die Kerle aus der Stadt gingen durch die Höfe, vorbei an Toten und Halbtoten, öffneten Vorratskammern und gruben Löcher in den Scheunen, stocherten mit Eisenstäben in der Erde herum und suchten noch immer nach dem Kulakenkorn.
    An einem schwülen Sommertag war dann Wassili Tschunjak gestorben, hatte einfach aufgehört zu atmen. In dieser Stunde waren wieder so ein paar Bürschchen aus der Stadt gekommen, und ein Mann mit blauen Augen war zu dem Toten hingetreten und hatte mit Moskauer Akzent gesagt: »Hat sich gesträubt, das Kulakengeschmeiß, gesträubt bis in den Tod.«
    Christja seufzte, bekreuzigte sich und begann, ihr Bett zu richten.
    52
    Strum hatte nicht damit gerechnet, dass seine Arbeit außerhalb eines relativ kleinen Kreises von Physikern Beachtung und Würdigung finden würde, doch in letzter Zeit erhielt er nicht nur Anrufe von bekannten Physikern, sondern auch von Mathematikern und Chemikern. Einige baten ihn um Erläuterungen seiner komplizierten mathematischen Schlussfolgerungen.
    Im Institut erschien eine Abordnung der Studentenschaft und bat ihn, im Auditorium maximum der Universität einen ausführlichen Vortrag für die Physik- und Mathematikstudenten der höheren Semester zu halten. Zweimal sprach er in der Akademie, und Markow und Sawostjanow berichteten, dass man sich in vielen Institutslaboratorien mit seiner Arbeit auseinandersetze.
    Im Sonderladen hörte Ljudmila Nikolajewna, wie eine Wissenschaftlerfrau eine andere fragte: »Wer ist vor Ihnen?«, und diese antwortete: »Frau Strum«, und die erste wiederum fragte: » Die Frau Strum?«
    Viktor Pawlowitsch ließ sich zwar nicht anmerken, dass ihn das unerwartet große Interesse an seiner Arbeit freute, doch war er keineswegs unempfänglich für den Ruhm, den er zu genießen begann. Im Wissenschaftsrat des Instituts sollte seine Arbeit für den Stalin-Preis vorgeschlagen werden. Strum blieb der entscheidenden Sitzung fern, hatte jedoch abends ständig das Telefon im Blick – er erwartete Sokolows

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