Leben und Schicksal
schob er die Unterlippe vor, dann schnitt er eine Grimasse, stocherte in den Zähnen, und sie sagte:
»Mein Gott, Vitja, wann lässt du dir denn endlich die Zähne richten?«
Sie wusste, dass er sich nicht etwa kratzte oder die Unterlippe vorschob, weil es ihn am Kopf juckte oder weil es ihn in der Nase kitzelte, sondern weil er an seine Arbeit dachte. Sie wusste, dass er, wenn sie sagen würde: »Vitja, du hörst mir ja nicht mal zu«, weiter in sein Buch schielen und antworten würde: »Doch, ich höre dir zu, ich kann dir sogar wiederholen, was du gesagt hast: ›Vitja, wann lässt du dir denn endlich die Zähne richten?‹« Dann würde er wieder einen Schluck Tee trinken, eine erstaunte Miene aufsetzen und wie ein Schizophrener in Trübsal verfallen, und all das hätte nur zu bedeuten, dass er beim Durchlesen der Arbeit eines ihm bekannten Physikers diesem in manchem zustimmte, in manchem aber nicht mit ihm einverstanden war. Danach würde Viktor Pawlowitsch lange reglos dasitzen und nach einer Weile schicksalsergeben nicken, mit fast greisenhafter Schwermut, einem Gesichtsausdruck, wie ihn wahrscheinlich Menschen haben, die an einem Gehirntumor leiden. Und wieder wusste Ljudmila Nikolajewna, woran Strum dachte: an seine Mutter.
Und wenn er so Tee trank, an seine Arbeit dachte und, von Schwermut übermannt, stöhnte, betrachtete Ljudmila Nikolajewna seine Augen, die sie küsste, und sein gelocktes Haar, das sie gerne kraulte, seine Lippen, die sie geküsst hatten, seine Wimpern und Augenbrauen, und seine Hände mit den kleinen, nicht besonders kräftigen Fingern, deren Nägel sie zu schneiden pflegte, und sagte: »Ach, du mein alter Dreckspatz.«
Sie kannte ihn in- und auswendig, wusste, welche Kinderbücher er vor dem Einschlafen im Bett gelesen hatte, was für ein Gesicht er machte, wenn er sich die Zähne putzte, kannte seine volltönende Stimme, die nur leicht zitterte, wenn er im dunklen Anzug vor dem Auditorium stand und seinen Vortrag über die Neutronenstrahlung begann. Sie wusste, dass er ukrainischen Borschtsch mit Bohnen liebte, und kannte sein leises Stöhnen, wenn er sich nachts im Schlaf umdrehte. Sie wusste, dass er den linken Schuhabsatz immer schneller ablief und sich die Hemdsärmel beschmutzte; sie wusste, dass er gern auf zwei Kopfkissen schlief, kannte seine heimliche Angst beim Überqueren großer Plätze in der Stadt, kannte den Geruch seiner Haut und die Form, die die Löcher in seinen Socken annahmen. Sie wusste, wie er vor sich hin summte, wenn er Hunger hatte und auf das Mittagessen wartete, wie die Zehennägel an seinen großen Zehen aussahen, kannte den Kosenamen, mit dem ihn seine Mutter gerufen hatte, als er zwei Jahre alt war; sie kannte seinen schlurfenden Gang und die Namen der Jungen, die sich mit ihm in der Abschlussklasse gerauft hatten. Sie kannte seine Spottlust und seine Gewohnheit, Tolja, Nadja und die Freunde zu necken. Selbst jetzt, da er fast immer bedrückter Stimmung war, zog er sie damit auf, dass ihre enge Freundin Marja Iwanowna Sokolowa wenig belesen war und einmal im Gespräch Balzac mit Flaubert verwechselt hatte. Er verstand es meisterhaft, Ljudmila auf den Arm zu nehmen, sie fiel jedes Mal darauf herein und ärgerte sich.
Auch jetzt widersprach sie ihm ernstlich erbost und verteidigte ihre Freundin: »Du machst dich immer über die Menschen lustig, die ich gern habe. Maschenka hat ein untrügliches Gespür für Literatur, sie braucht gar nicht viel zu lesen, sie erfühlt ein Buch.«
»Ja, natürlich«, sagte er, »sie ist sicher, dass Anatole France ›Max und Moritz‹ geschrieben hat.«
Sie kannte seine Liebe zur Musik und seine politischen Ansichten. Sie hatte ihn einmal weinen sehen, hatte gesehen, wie er sich vor Wut das Hemd zerrissen hatte und mit zum Schlag erhobener Faust auf sie zugehüpft war, wobei er sich in seiner langen Unterhose verfing. Sie kannte seine bedingungslose Offenheit und Ehrlichkeit, seine Anfälle von überschwänglicher Begeisterung, sie hatte gehört, wie er Gedichte deklamierte, und sie hatte gesehen, wie er Abführmittel schluckte.
Sie spürte, dass ihr Mann zurzeit schlecht auf sie zu sprechen war, obwohl sich in ihrer Beziehung scheinbar nichts geändert hatte. Doch es gab eine Veränderung, und die äußerte sich darin, dass er nicht mehr mit ihr über seine Arbeit sprach. Er sprach mit ihr über Briefe von Bekannten und über die Einschränkung von Lebensmitteln und Industriegütern. Er sprach mit ihr sogar
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