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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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auf.
    »Ein ganz schönes Päckchen habe ich für sie zusammengestellt, und meine Frau schreibt nicht, verstehen Sie das? Es kommt einfach keine Antwort von ihr. Ich weiß nicht einmal, ob das Päckchen bei ihnen angekommen ist. Vielleicht sind sie auch krank geworden? Wie leicht passiert bei der Evakuierung ein Unglück.«
    Podtschufarow erinnerte sich plötzlich daran, wie in ferner Vergangenheit die Zimmerleute, die in Moskau Arbeit gesucht und gefunden hatten, ins Dorf zurückkehrten und den Frauen, Greisen und Kindern Geschenke mitbrachten. Ihnen hatte das Leben auf dem Dorf, die Wärme ihres Herdes stets mehr bedeutet als das lärmende Getriebe und die nächtlichen Lichter von Moskau.
    Nach einer halben Stunde kamen sie zum Bataillonsgefechtsstand, doch Berjoskin machte keine Anstalten, in den Keller zu gehen, sondern verabschiedete sich draußen von Podtschufarow, »Leisten Sie Haus ›sechs Strich eins‹ größtmöglichen Beistand«, sagte er, »unternehmen Sie keinen Versuch, zu ihnen durchzukommen, das werden wir nachts mit den Kräften des Regiments erledigen.« Danach fuhr er fort: »Und nun Folgendes … Es gefällt mir nicht, wie Sie mit den Verwundeten umgehen. Bei Ihnen im Befehlsstand stehen Sofas herum, aber die Verwundeten liegen auf dem Fußboden. Außerdem: Sie haben nicht für frisches Brot gesorgt, die Leute essen Dauerbrot. Das war Punkt zwei. Außerdem: Ihr Politruk Soschkin war sternhagelvoll. Das war Punkt drei. Außerdem …«
    Podtschufarow hörte zu und wunderte sich, was der Regimentskommandeur bei seinem Rundgang durch die Verteidigungsstellung alles bemerkt hatte … Der stellvertretende Zugführer hatte deutsche Hosen und der Chef der ersten Kompanie zwei Armbanduhren getragen.
    Berjoskin sagte belehrend: »Der Deutsche wird angreifen, kapiert?«
    Er ging zur Fabrik, und Gluschkow, der in der Zwischenzeit seine Absätze hatte in Ordnung bringen und den Riss in seiner wattierten Jacke zunähen können, fragte: »Geht’s heim?«
    Berjoskin gab ihm keine Antwort, sondern sagte zu Podtschufarow: »Rufen Sie den Regimentskommissar an und sagen Sie ihm, dass ich zu Dyrkin in die Fabrik, Halle drei, gegangen bin,« Augenzwinkernd fügte er noch hinzu: »Schicken Sie mir was von Ihrem guten Kraut. Immerhin bin auch ich ein Vorgesetzter.«
    15
    Kein Brief von Tolja … In der Früh sorgte Ljudmila Nikolajewna dafür, dass ihr Mann und ihre Mutter gut zur Arbeit kamen und Nadja zur Schule fertig wurde. Als Erste ging die Mutter, die als Chemikerin im Labor der bekannten Kasaner Seifenfabrik arbeitete, aus dem Haus. Wenn sie am Zimmer ihres Schwiegersohns vorbeiging, wiederholte sie gewöhnlich den Scherz, den sie von den Fabrikarbeitern hatte: »Der Herr muss um sechs zur Arbeit, aber der Knecht erst um neun.«
    Nach ihr ging Nadja in die Schule, vielmehr, sie ging nicht, sie rannte im Galopp davon, weil man sie um keinen Preis rechtzeitig aus dem Bett scheuchen konnte – in letzter Minute sprang sie hoch, schnappte sich Strümpfe, Jacke, Bücher und Hefte, beim Frühstück verschluckte sie sich am Tee, und erst wenn sie die Treppe hinunterhastete, band sie sich den Schal um und knöpfte den Mantel zu.
    Wenn sich Viktor Pawlowitsch Strum an den Frühstückstisch setzte, war Nadja schon fort, und der Tee war kalt geworden und musste wieder aufgewärmt werden.
    Alexandra Wladimirowna ärgerte sich über Nadjas Klage: »Wenn man doch nur schneller aus diesem Kaff abhauen könnte.« Nadja hatte keine Ahnung, dassDerschawin 5 irgendwann einmal in Kasan gewohnt hatte, dassAksakow 6 , Tolstoi, Lenin,Sinin 7 und Lobatschewski hier gelebt hatten, dass Maxim Gorki einmal in einer Kasaner Bäckerei gearbeitet hatte.
    »Was für eine senile Gleichgültigkeit«, pflegte Alexandra Wladimirowna zu sagen, und dieser Vorwurf, an ein heranwachsendes Mädchen gerichtet, klang seltsam aus dem Mund der alten Frau.
    Ljudmila beobachtete, dass ihre Mutter weiterhin Interesse für Menschen und für die neue Arbeit aufbrachte. Neben der Bewunderung für die seelische Kraft ihrer Mutter hegte sie aber noch ein ganz anderes Gefühl – wie konnte sich nur jemand, der Kummer hatte, für die Hydrogenisierung von Fetten, für Kasaner Straßen und Museen interessieren?
    Einmal, als Strum seiner Frau gegenüber eine Bemerkung über das jugendliche Wesen Alexandra Wladimirownas gemacht hatte, verlor Ljudmila die Beherrschung: »Bei Mama ist das nicht Jugendlichkeit, sondern Altersegoismus.«
    »Großmutter ist keine

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