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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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gelegentlich über seine Angelegenheiten im Institut, im Labor, berichtete ihr über seinen Arbeitsplan und erzählte von seinen Mitarbeitern: Sawostjanow war nach einem nächtlichen Gelage zur Arbeit gekommen und eingeschlafen, die Laborantinnen hatten unter dem Dunstabzug Kartoffeln gekocht. Markow bereitete eine neue Versuchsreihe vor.
    Doch über seine eigene Arbeit, seine eigenen geistigen Anstrengungen, über die er sonst auf der ganzen Welt einzig und allein mit Ljudmila Nikolajewna gesprochen hatte, sprach er nicht mehr.
    Er hatte ihr einmal gestanden, dass er, wenn er Freunden seine Notizen vorläse oder ihnen seine Gedanken und Überlegungen anvertraute, am Tag darauf ein unangenehmes Gefühl verspürte – die Arbeit käme ihm dann nichtssagend vor, und es fiele ihm schwer, sie wieder aufzunehmen.
    Der einzige Mensch, dem er seine Zweifel anvertraute, seine bruchstückhaften Aufzeichnungen und phantastischen Hypothesen vorlas, ohne je danach ein seelisches Tief durchstehen zu müssen, war Ljudmila Nikolajewna gewesen.
    Jetzt sprach er nicht mehr mit ihr.
    Jetzt machte er sich seinen Kummer dadurch leichter, dass er Ljudmila anklagte. Er dachte unentwegt an seine Mutter. Und er dachte über etwas nach, worüber er bisher nie nachgedacht hatte – über sein jüdisches Blut, darüber, dass seine Mutter Jüdin war.
    Innerlich machte er Ljudmila den Vorwurf, dass sie zu seiner Mutter ein kühles Verhältnis hatte. Einmal hatte er zu ihr gesagt:
    »Wenn du es verstanden hättest, ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter aufzubauen, dann hätte sie bei uns in Moskau gewohnt.«
    Sie wiederum rekapitulierte im Geiste alle Grobheiten und Ungerechtigkeiten, die Viktor Pawlowitsch Tolja gegenüber begangen hatte, und natürlich gab es da manches, woran sie sich erinnerte.
    Ihr Herz füllte sich mit Bitterkeit, so ungerecht war er zu seinem Stiefsohn gewesen, so viel Schlechtes hatte er in Tolja gesehen, so mühsam hatte er ihm seine Unzulänglichkeiten verziehen. Nadja jedoch verzieh ihr Vater alle Grobheit, Faulheit, Schlamperei und mangelnde Bereitschaft, der Mutter im Haushalt zu helfen.
    Sie dachte an Viktor Pawlowitschs Mutter – ja, ihr Schicksal war grauenhaft.
    Doch wie konnte Viktor von Ljudmila freundschaftliche Gefühle für Anna Semjonowna erwarten, wenn Anna Semjonowna ihrerseits ein gespanntes Verhältnis zu Tolja hatte. Jeder ihrer Briefe und jeder ihrer Besuche in Moskau waren aus diesem Grund für Ljudmila unerträglich gewesen. Nadja, Nadja, Nadja … Nadja hat Viktors Augen … Nadja hält die Gabel wie Viktor … Nadja ist versponnen, Nadja hat einen wachen Verstand. Nadja hat geistigen Tiefgang. Die Liebe und Zärtlichkeit für den Sohn übertrug Anna Semjonowna auf ihre Enkelin. Aber hielt Tolja etwa die Gabel nicht genauso wie Viktor Pawlowitsch?
    Merkwürdig – in letzter Zeit dachte sie häufiger als früher an Toljas Vater, ihren ersten Mann. Sie hätte gern seine Angehörigen ausfindig gemacht, besonders seine ältere Schwester; sie würden sich über Toljas Augen freuen. Abartschuks Schwester würde in Toljas Augen, in seinem krumm gewachsenen Daumen und in seiner breiten Nase die Augen, Hände und Nase ihres Bruders wiedererkennen.
    Und wie sie alles Positive in Viktor Pawlowitschs Beziehung zu Tolja aus dem Gedächtnis verdrängte, so verzieh sie Abartschuk alles Schlimme, verzieh ihm sogar, dass er sie mit einem Säugling sitzengelassen und ihr verboten hatte, Tolja den Nachnamen Abartschuk zu geben.
    Vormittags blieb Ljudmila Nikolajewna allein zu Hause. Sie wartete auf diese Stunde, die Familie störte sie. Das gesamte Weltgeschehen – der Krieg, das Schicksal der Schwestern, die Arbeit ihres Mannes, Nadjas Charakter, die Gesundheit ihrer Mutter, ihr Mitleid mit den Verwundeten, das Leid über die in deutscher Gefangenschaft umgekommenen Soldaten –, das alles wurde noch schwerer durch ihren Schmerz und ihre Sorge um Tolja.
    Sie spürte, dass die Gefühle ihrer Mutter, ihres Mannes und ihrer Tochter aus ganz anderen Quellen gespeist wurden. Deren Zuneigung und Liebe zu Tolja erschienen ihr oberflächlich. Tolja war für Ljudmila alles auf der Welt, für die anderen war er nur ein Teil der Welt.
    Es vergingen Tage, es vergingen Wochen, von Tolja kamen keine Briefe.
    Jeden Tag übertrug das Radio die Meldung des Sowinformbüros, jeden Tag waren die Zeitungen voll von Kriegsberichten. Die sowjetischen Truppen befanden sich auf dem Rückzug. In den Radiomeldungen und Zeitungen wurde

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