Leben und Schicksal
Egoistin, sondern eineNarodniza 8 «, hatte Nadja gesagt und hinzugefügt: »Narodniki sind gute Menschen, wenn auch keine sehr intelligenten.«
Nadja äußerte ihre Meinung kategorisch und, vermutlich aufgrund ihres permanenten Zeitmangels, in Kurzform. »So ein Quark« erhielt bei ihr besonderes Gewicht durch das stark gerollte »r«. Sie las immer die neuesten Berichte des Sowinformbüros, war über die Kriegsereignisse auf dem Laufenden und mischte sich in Gespräche über Politik ein. Nach einer Sommerreise auf eine Kolchose legte sie ihrer Mutter die Gründe für die geringe Effizienz der Kolchosarbeit dar.
Ihre Schulnoten sagte sie der Mutter nicht, nur einmal hatte sie beiläufig mitgeteilt: »Weißt du, heute habe ich eine schlechte Note in Betragen bekommen. Stell dir vor, die Mathelehrerin hat mich aus dem Klassenzimmer rausgeworfen. Beim Rausgehen hab ich ›goodbye‹ gebrüllt – das gab vielleicht ein Hallo.«
Wie viele Kinder aus wohlhabenden Familien, die vor dem Krieg keine materiellen Sorgen und Lebensmittelengpässe gekannt hatten, sprach Nadja in der Zeit der Evakuierung viel über Lebensmittelrationen, über Vorzüge und Unzulänglichkeiten der Verteilerstellen, kannte die Vorteile von Pflanzenöl gegenüber tierischem Fett, die Licht- und Schattenseiten von Buchweizen zweiter Wahl und die Vorzüge von Würfelzucker gegenüber Streuzucker.
»Weißt du was?«, sagte sie einmal zu ihrer Mutter: »Ich finde, du solltest mir von heute an Tee mit Honig anstelle von Tee mit Kondensmilch geben. Meiner Meinung nach bekommt mir das besser, und dir ist es sowieso egal.«
Manchmal wurde Nadja muffig und warf den Erwachsenen mit verächtlichem Lächeln Grobheiten an den Kopf. Einmal hatte sie im Beisein der Mutter zum Vater »du Dummkopf« mit einer solchen Gehässigkeit gesagt, dass Strum die Fassung verloren hatte.
Manchmal bemerkte die Mutter, wie Nadja beim Lesen eines Buches weinte. Sie hielt sich für ein rückständiges, vom Pech verfolgtes Geschöpf, das zu einem trostlosen und harten Leben verdammt war.
»Niemand mag mich, ich bin dumm, für keinen interessant«, hatte sie einmal bei Tisch gesagt. »Keiner wird mich heiraten; ich mach die Apothekerlehre und geh fort, aufs Land.«
»Auf dem Land, wo sich Füchse und Hasen gute Nacht sagen, gibt’s keine Apotheken«, hatte Alexandra Wladimirowna erwidert.
»Was das Heiraten betrifft, so ist deine Prognose zu düster«, hatte Strum gemeint. »In letzter Zeit bist du hübscher geworden.«
»Ich pfeif drauf«, hatte Nadja gesagt und den Vater grimmig angeschaut.
Nachts aber bemerkte die Mutter, wie Nadja, den nackten, dünnen Arm unter der Decke hervorgestreckt, ein Buch in der Hand hielt und Gedichte las.
Einmal hatte Nadja aus der Verteilerstelle der Akademie zwei Kilo Butter und ein großes Paket Reis nach Hause gebracht und gesagt: »Die Menschen, mich inbegriffen, sind Lumpen und Schurken, die sich all das zugutekommen lassen. Auch Papa ist so gemein und tauscht Talent gegen Butter. Es ist ja, als ob Kranke, Ungebildete und schwache Kinder ein Hungerdasein führen müssten, bloß weil sie keine Ahnung von Physik haben oder den Plan nicht dreihundertprozentig bewältigen können … In Butter schwelgen können nur Auserwählte.«
Beim Abendessen aber hatte sie dreist verlangt: »Mama, gib mir die doppelte Portion Honig und Butter; ich hab ja heute Morgen verschlafen.«
Nadja glich in vielem dem Vater. Ljudmila Nikolajewna war aufgefallen, dass Viktor Pawlowitsch an seiner Tochter gerade die Charakterzüge reizten, die sie mit ihm gemein hatte.
Einmal hatte Nadja, genau den väterlichen Tonfall nachahmend, über Postojew geschimpft: »Dieser Gauner, Stümper und Schnorrer!«
Strum hatte sich empört: »Wie kommst du grünes Schulmädel dazu, in dieser Weise über einen Akademiker zu sprechen?«
Doch Ljudmila Nikolajewna erinnerte sich, wie Viktor als Student alle akademischen Größen als »Nieten, Stümper, Schwätzer und Postenjäger« tituliert hatte. Sie verstand, dass es Nadja nicht leicht hatte; ihr komplizierter, schwieriger Charakter trieb sie in die Isolation.
Wenn Nadja aus dem Haus war, frühstückte Viktor Pawlowitsch. Er schielte dabei ins Buch, schluckte, ohne zu Ende zu kauen, machte ein dumm-erstauntes Gesicht, tastete mit der Hand nach dem Teeglas und sagte, ohne den Blick vom Buch zu heben: »Schenk mir noch was ein, wenn’s geht, heißeren Tee.« Sie kannte alle seine Gesten; mal kratzte er sich am Kopf, mal
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