Leben und Schicksal
das aber je für Tolja fertiggebracht? Gestern hatte sie sich getäuscht. Nadja war nicht wirklich aufrichtig zu ihr gewesen. Was war es also – ein kindliches Strohfeuer oder ihr Schicksal?
Nadja hatte ihr von dem Kreis der jungen Leute erzählt, in dem sie diesen Lomow kennengelernt hatte. Sie hatte recht genau darüber berichtet, wie dort nicht zeitgemäße Gedichte vorgetragen wurden, über alte und moderne Kunst diskutiert und über Dinge gespottet wurde, über die man nach Ljudmilas Ansicht auf gar keinen Fall spotten durfte.
Nadja hatte bereitwillig auf Ljudmilas Fragen geantwortet und sicher auch die Wahrheit gesagt. »Nein, wir trinken nie, nur einmal, als wir einen zum Bahnhof begleitet haben, der an die Front musste; manchmal sprechen wir über Politik … Natürlich nicht so wie in den Zeitungen, aber sehr selten, vielleicht ein- oder zweimal bisher.«
Kaum hatte jedoch Ljudmila Nikolajewna angefangen, Fragen über Lomow zu stellen, da waren Nadjas Antworten ärgerlich und knapp geworden. »Nein, er schreibt keine Gedichte.« – »Woher soll ich wissen, was seine Eltern sind, ich hab sie doch nie gesehen. Was ist denn daran merkwürdig? Er weiß doch auch nichts über meinen Vater; wahrscheinlich denkt er, er ist Verkäufer im Lebensmittelladen.«
War das Nadjas Schicksal? Oder würde in einem Monat alles wieder vergessen sein?
Während sie das Essen kochte, dachte sie an ihre Mutter, an Vera, Genia und Serjoscha. Sie rief bei Marja Iwanowna an, doch es meldete sich niemand; dann rief sie bei Postojews an und erfuhr von der Haushilfe, dass Frau Postojew einkaufen gefahren sei; dann rief sie die Hausverwaltung an, damit man ihr einen Schlosser schicke, der den Wasserhahn reparieren solle, dort hieß es, der Schlosser sei nicht zur Arbeit erschienen.
Sie begann, einen Brief an ihre Mutter zu schreiben – einen vermutlich langen Brief, in dem sie um Verzeihung bitten wollte, dass sie für Alexandra Wladimirowna nicht die richtigen Lebensbedingungen hatten schaffen können, sodass die Mutter lieber allein in Kasan geblieben war. Schon vor dem Krieg hatte Ljudmila keiner der Verwandten mehr besucht oder bei ihr gewohnt. Auch jetzt kamen nicht einmal engste Freunde und Verwandte zu ihr in die große Moskauer Wohnung. Sie zerriss vier angefangene Briefbögen, dann gab sie es auf.
Kurz vor Feierabend rief Viktor Pawlowitsch an und sagte, er werde länger im Institut bleiben, die Techniker, die ihm von einer Rüstungsfabrik zugesagt worden seien, kämen diesen Abend.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.
»Ah, wegen dem?«, sagte er. »Nein, nichts Neues.«
Am Abend las Ljudmila Nikolajewna den Brief der Mutter noch einmal durch und trat damit ans Fenster.
Der Mond schien, die Straße war leer. Wieder sah sie Nadja Arm in Arm mit ihrem Soldaten ankommen. Sie gingen auf dem Pflaster auf das Haus zu. Dann fing Nadja plötzlich an zu rennen, und der Junge im Soldatenmantel blieb verloren mitten auf dem Pflaster stehen und sah ihr nach …
In Ljudmila Nikolajewnas Herzen vereinte sich in diesem Moment alles, was unvereinbar schien – ihre Liebe zu Viktor Pawlowitsch, ihre Sorge um ihn und ihr Ärger über ihn. Tolja, der von ihr gegangen war, ohne je den Mund eines Mädchens geküsst zu haben, und der Leutnant, der auf dem Pflaster stand, und da stieg auch Vera glücklich die Treppe ihres Stalingrader Hauses hinauf, und Alexandra Wladimirowna hatte kein eigenes Dach über dem Kopf.
In ihrem Herzen erfühlte sie das ganze Spektrum des Lebens, das dem Menschen zur reinen Freude, aber auch zu schrecklichem Leid gereichte.
57
Vor dem Institut stieß Strum auf Schischakow, der eben aus seinem Auto stieg.
Schischakow hob grüßend den Hut, schien aber nicht den Wunsch zu haben, mit ihm zu sprechen.
»Es steht schlecht für mich«, dachte Strum.
Professor Swetschin, der beim Mittagessen am Nebentisch saß, schaute an ihm vorbei und sprach ihn nicht an. Der dicke Gurewitsch hingegen begann beim Verlassen der Kantine ein besonders herzliches Gespräch mit ihm und drückte ihm lange die Hand, doch als sich die Tür des Direktionsvorzimmers öffnete, verabschiedete er sich hastig und ging seiner Wege.
Im Labor sah Markow, mit dem Strum über die Einstellung der Apparatur für die vorgesehenen Aufnahmen nuklearer Teilchen sprach, zwischendurch von seinen Aufzeichnungen auf und sagte: »Viktor Pawlowitsch, man hat mir erzählt, dass im Büro des Parteikomitees ein sehr ernstes Gespräch über
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