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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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kein Spinoza.«
    All diese Gedanken, der träge Kanonendonner, der Ärger über Abramow und der Herbsthimmel – Krymow sollte sich noch lange in aller Klarheit und Schärfe daran erinnern.
    Ein Stabsangehöriger mit grünen Hauptmannsabzeichen am Mantel, der ihm vom Gefechtsstand gefolgt war, rief Krymow an.
    Krymow warf dem Mann einen verständnislosen Blick zu.
    »Hierher, bitte«, sagte der Hauptmann gedämpft und zeigte mit der Hand auf die Tür eines Holzhauses.
    Krymow ging am Wachposten vorbei und betrat das Haus. Sie kamen in ein Zimmer mit einem Büroschreibtisch; an der Holzwand hing, mit Reißzwecken befestigt, ein Porträt Stalins.
    Krymow erwartete, dass der Hauptmann ihn um etwas bitten werde, vielleicht etwa so: »Entschuldigen Sie, Genosse Bataillonskommissar, könnten Sie dem Genossen Toschtschejew am linken Ufer unseren Bericht überbringen?«
    Es kam aber anders. Der Hauptmann sagte: »Geben Sie mir Ihre Waffe und Ihre persönlichen Papiere.«
    Krymow sprach verdutzt Worte aus, die gar keinen Sinn mehr hatten: »Mit welchem Recht? Zeigen Sie mir erst Ihren Ausweis, bevor Sie meinen verlangen!«
    Und dann, als er sich überzeugt hatte, dass die Situation albern und absurd, aber eindeutig war, stammelte er die gleichen Worte wie in ähnlichen Fällen Tausende von Menschen vor ihm:
    »Das ist doch Unsinn, ich verstehe absolut nichts, ein Missverständnis.«
    Aber das waren schon nicht mehr die Worte eines freien Mannes.
    2
    »Stell dich nicht so dumm. Antworte, von wem wurdest du während der Einkesselung angeworben?«
    Man verhörte ihn am linken Wolga-Ufer in der Front-Sonderabteilung.
    Die gestrichenen Bohlen des Fußbodens, die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und die Wanduhr gaben der Stube den Anschein provinzieller Gemütlichkeit. Angenehm vertraut erschienen das Zittern der Fensterscheiben und der von der Stalingrader Seite kommende Lärm – wahrscheinlich luden die Bomber am rechten Ufer ihre Last ab.
    Wie wenig passte doch der am einfachen Küchentisch sitzende Oberstleutnant zum Bild des imaginären blasslippigen Untersuchungsrichters.
    Aber da trat der Oberstleutnant, mit einem Kreidefleck an der Schulter, der von dem getünchten Ofen stammte, auf den Kenner der Arbeiterbewegung in den Kolonialländern des Ostens zu, der auf einem Hocker saß, auf den Mann, der eine Armeeuniform mit dem Kommissarsstern am Ärmel trug, auf den Mann, der von einer lieben, guten Mutter geboren worden war, und schlug ihm die Faust ins Gesicht.
    Nikolai Grigorjewitsch strich sich über die Lippen und die Nase, schaute sich seine Handfläche an und sah Blut, vermischt mit Speichel. Er wollte die Zunge bewegen, aber sie gehorchte ihm nicht mehr, die Lippen fühlten sich taub an. Er blickte auf den gestrichenen, kürzlich erst geschrubbten Boden und schluckte Blut.
    In der Nacht überkam ihn Hass auf den Offizier der Sonderabteilung. Doch in den ersten Minuten fühlte er weder Hass noch physischen Schmerz. Der Schlag ins Gesicht war eine psychische Katastrophe und konnte auch nichts als Lähmung und Bestürzung auslösen.
    Krymow blickte sich um, er schämte sich vor dem Wachposten. Ein Rotarmist sah zu, wie ein Kommunist geschlagen wurde. Der Kommunist Krymow wurde in Anwesenheit eines Jungen geschlagen, für den die große Revolution, an der Krymow teilgenommen hatte, vollbracht worden war.
    Der Oberstleutnant sah auf die Uhr: Es gab jetzt Abendbrot in der Kantine der Abteilungschefs.
    Als Krymow über den Hof durch den gefrorenen Pulverschnee zu einem Blockhaus, dem Gefängnis, geführt wurde, war aus Stalingrad der Lärm des Luftangriffs besonders deutlich zu hören.
    Der erste Gedanke, der ihm nach der Lähmung kam, war der Wunsch, dass sein Gefängnis von einer deutschen Bombe zerstört werden möge. Aber dieser Gedanke war primitiv und abscheulich.
    In der stickigen Zelle mit den Balkenwänden quälten ihn Verzweiflung und Wut – er ging sich selbst verloren. Er war es doch gewesen, der damals mit heiser gewordener Stimme geschrien hatte, während er zum Flugzeug lief und seinen Freund Georgi Dimitrow in Empfang nahm; er war es gewesen, der den Sarg von Clara Zetkin getragen hatte, und er war es auch gewesen, der vorhin verstohlen aufgeblickt hatte, um zu sehen, ob ihn der Offizier der Sonderabteilung noch einmal schlagen werde oder nicht. Er hatte Soldaten aus dem Kessel gerettet, man nannte ihn »Genosse Kommissar«. Und nun schaute ihn der Kolchosbauer und MP-Schütze angewidert an, ihn, den beim

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