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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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standen mit unkindlicher Miene neben den Erwachsenen und lauschten den Worten des Lesenden.
    »Unsere Truppen haben die Stadt Kalatsch am östlichen Ufer des Don eingenommen, ebenso die Station Kriwomusginskaja und die Station und Stadt Abgassarowo«, las er.
    Auch Vera weinte mit den anderen. Auch sie fühlte dieses Band zwischen jenen, die in der nächtlichen, winterlichen Kälte marschierten, fielen, wieder aufstanden und erneut fielen, um nie mehr aufzustehen, und diesem Schiffsraum, wo mutlose, erschöpfte Menschen die Nachricht von dem Angriff hörten.
    Um ihretwillen und ihres Sohnes willen, um der Frauen willen, deren Hände vom ständigen Umgang mit eisigem Wasser aufgesprungen waren, um der Greise und der in die zerfetzten Tücher ihrer Mütter gehüllten Kinder willen gingen sie dort in den Tod.
    Unter Tränen malte sie sich freudig aus, wie ihr Mann hierher zu ihr kommen würde, wie die Frauen, Greise und Arbeiter ihm Platz machen und zu ihm sagen würden: »Junge!«
    Der Mann, der die Meldung des Sowinformbüros verlas, fuhr fort: »Der Angriff unserer Truppen dauert an.«
    64
    Der Diensthabende im Stab erstattete dem Chef der 8. Luftarmee Meldung über den Einsatz der Jagdfliegereinheiten am ersten Tag der Offensive.
    Der General betrachtete die vor ihm liegenden Papiere und sagte zum Diensthabenden: »Sakabluka hat kein Glück, gestern haben sie ihm den Kommissar abgeschossen und heute zwei Flieger.«
    »Ich habe im Regimentsstab angerufen, Genosse Befehlshaber«, sagte der Diensthabende. »Genosse Berman wird morgen beerdigt. Das Mitglied des Kriegsrats wird hinfliegen und eine Rede halten.«
    »Unser Mitglied liebt das Reden«, sagte der General lächelnd.
    »Mit den Fliegern war es so, Genosse Befehlshaber: Leutnant Korol ist über der Stellung der 38. Gardearmee gefallen, und den Staffelkapitän, Oberleutnant Viktorow, haben die ›Messerschmitts‹ über dem deutschen Flugplatz erwischt und in Brand gesteckt. Er hat’s nicht mehr bis zur Front zurückgeschafft, ist auf einer Höhe, gerade in der neutralen Zone, runtergekommen. Die Infanterie hat ihn holen wollen, aber die Deutschen haben’s nicht zugelassen.«
    »Ja, das kommt vor«, sagte der Befehlshaber und kratzte sich mit dem Bleistift die Nase. »Sie werden Folgendes tun: Lassen Sie sich mit dem Frontstab verbinden und erinnern Sie Sacharow an sein Versprechen, uns unseren ›Willis‹ zu ersetzen, und zwar rasch, sonst haben wir bald überhaupt kein Fahrzeug mehr.«
    Die ganze Nacht lag der tote Flieger auf dem schneebedeckten Hügel. Es herrschte klirrender Frost, und die Sterne leuchteten hell und klar. In der Morgendämmerung färbte sich der Hügel rosa, und der Flieger lag auf einem Rosenhügel. Dann brach ein Schneesturm los und begrub ihn unter sich.

DRITTER TEIL

1
    Einige Tage vor Beginn der Stalingrader Offensive erschien Krymow im Kommandobunker der 64. Armee. Der Adjutant des Kriegsratsmitglieds Abramow saß an seinem Schreibtisch und aß Hühnersuppe mit Piroggen. Der Adjutant legte den Löffel beiseite, und seinem Seufzer war zu entnehmen, dass die Suppe gut war. Krymow bekam feuchte Augen – er hatte die allergrößte Lust, selbst in ein Stück Kohlpirogge hineinzubeißen.
    Hinter der Bretterwand blieb es nach der Meldung des Adjutanten still, dann vernahm Krymow die ihm bekannte heisere Stimme, doch die Worte wurden leise gesprochen, sodass Krymow sie nicht verstehen konnte. Der Adjutant kam zurück und sagte: »Genosse Abramow kann Sie nicht empfangen.«
    Krymow sagte verwundert: »Ich habe nicht um das Gespräch gebeten. Es war Genosse Abramow, der mich vorlud.«
    Der Adjutant schwieg, den Blick in die Suppe versenkt.
    »Eine Absage also. Das verstehe ich nicht«, sagte Krymow.
    Er stieg ans Tageslicht und wanderte durch einen Graben zum Wolga-Ufer, wo sich die Redaktion der Armeezeitung befand.
    Er schritt dahin, verärgert über die unnütze Vorladung, böse, dass es ihn so sehr nach dem fremden Essen verlangt hatte, und horchte auf das Kanonenfeuer, dessen sporadisches, träges Gedonner von der Kuporosnaja-Schlucht herüberdrang. Ein Mädchen in Schirmmütze und Soldatenmantel eilte vorbei. Krymow sah ihr nach und dachte: »Hübsches Ding.«
    Wie so oft drückte ihm die Sehnsucht das Herz zusammen: Er dachte an Genia. Wie so oft befahl er sich: »Weg damit, weg!« Und er erinnerte sich an die Übernachtung in dem Kosakendorf und an die junge Kosakin.
    Dann dachte er an Spiridonow: »Ein guter Mensch, aber natürlich

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