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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ihn wohl erst vor kurzem aus den Händen gelegt: Das Brot war noch weich, nur die Hasenlöffel waren bereits eingetrocknet.
    Es wurde stiller … Krymow saß mit halb geöffnetem Mund auf der Pritsche, konnte nicht schlafen – er musste über zu vieles nachdenken. Doch dem betäubten Gehirn gelang es nicht, zu denken, die Schläfen wurden von einem Schraubstock zusammengepresst, der Kopf war erfüllt von einem tödlichen Strudel; darin drehte sich alles, wogte, plätscherte, nichts ließ sich greifen, um daran einen Gedanken festzumachen.
    In der Nacht hörte man draußen wieder Lärm. Die Posten riefen nach dem Wachhabenden, Stiefel stapften durch den Gang. Der Kommandant – Krymow erkannte seine Stimme – sagte: »Bring den Bataillonskommissar in drei Teufels Namen auf die Wachstube.« Dann fügte er hinzu: »Es ist eben ein besonderes Vorkommnis! Das wird bis zum Oberkommandierenden rauf gemeldet.«
    Die Tür wurde geöffnet, der Posten brüllte: »Raus!«
    Krymow folgte. Auf dem Gang stand ein barfüßiger Mann in Unterwäsche.
    Krymow hatte viel Schlimmes erlebt, doch als er aufblickte, wusste er: Etwas Schlimmeres als dieses Gesicht hatte er noch nicht gesehen. Es war ein kleines Gesicht, schmutzig gelb. Es weinte jämmerlich, alles war von Tränen überströmt – die Falten, die zitternden Wangen, die Lippen. Nur die Augen weinten nicht, Krymow hätte diese schrecklichen Augen besser nie gesehen, diesen Ausdruck darin.
    »Los, los«, trieb der Posten Krymow an.
    Auf der Wachstube erzählte er ihm von dem besonderen Vorkommnis.
    »Die wollen mir mit der Frontlinie Angst machen, aber hier ist’s schlimmer als draußen im Feuer, das zerrt gehörig an den Nerven … Sie haben einen Selbstverstümmler zur Erschießung gebracht, der hatte sich durch einen Brotlaib eine Kugel in die linke Hand gejagt. Man hat ihn erschossen, mit Erde zugeschüttet, und nachts ist er lebendig rausgekrochen und zu uns zurückgekommen.«
    Während er mit Krymow sprach, versuchte er, sowohl das »Du« als auch das »Sie« zu umgehen.
    »Das sind solche Pfuscher, dass es einem den letzten Nerv raubt. Vieh schlachtet man sauberer ab. Da wird nur gepfuscht: Die Erde ist steif gefroren, da schaufeln sie nur das Gestrüpp weg, streuen eine Handvoll drüber und trollen sich. Na klar, dass er raus ist! Hätten sie ihn laut Instruktion verscharrt, wäre er nie wieder rausgekommen.«
    Und Krymow, gewohnt, Antworten zu geben und die Menschen auf den rechten Weg zu weisen, fragte den Posten in seiner Verwirrung: »Ja, wieso ist er denn überhaupt zurückgekommen?«
    Der Posten grinste.
    »Und der Unteroffizier, der ihn ins Jenseits befördern sollte, der sagt obendrein, man müsse ihm Brot und Tee geben, bis der Fall wieder geregelt sei, und der Intendant ist fuchsteufelswild – was soll der Tee, wenn er schon abgeschrieben ist? Er hat meiner Meinung nach recht, wie kommt er dazu, für die Pfuscher geradezustehen?«
    Krymow fragte plötzlich: »Was waren Sie in Friedenszeiten?«
    »Bienenzüchter im Staatsgut.«
    »Klar«, sagte Krymow, weil alles um ihn herum und in ihm drin finster geworden war und wirr.
    Im Morgengrauen brachten sie Krymow in die Einzelzelle zurück. Neben dem Napf stand noch der aus Brot geknetete Hase. Doch jetzt war er hart und rau. Aus der Gemeinschaftszelle erklang eine einschmeichelnde Stimme: »He, Wache, sei ein guter Kumpel, lass mich austreten!«
    In der Steppe ging zu dieser Stunde eine rostig rote Sonne auf – wie eine gefrorene, schmutzige Rübe; mit Erd- und Lehmklumpen besprenkelt, erklomm sie den Himmel.
    Bald wurde Krymow auf die Ladefläche eines Eineinhalbtonners verfrachtet, daneben setzte sich als Begleiter ein freundlicher Leutnant, der Unteroffizier reichte ihm Krymows Koffer hinauf, und der Lastwagen fuhr keuchend und holpernd los – über den frostharten Schlamm der Achtubinsker Steppe in Richtung Leninsk, wo ein Flughafen war.
    Krymow atmete die feuchtkalte Luft ein, und sein Herz erfüllte sich mit Glauben und Licht, der furchtbare Traum schien zu Ende.
    4
    Nikolai Grigorjewitsch stieg aus dem Wagen und erfasste den grauen, engen Einlass ins Lubjanka-Gefängnis mit einem Blick. Sein Kopf dröhnte nach dem vielstündigen Lärm der Flugzeugmotoren, nach dem Vorbeihuschen von abgeernteten und nicht abgeernteten Feldern, nach dem Wechsel der Flüsschen und Wälder und auch der Gefühle – Verzweiflung, dann Sicherheit und wieder Unsicherheit.
    Die Tür öffnete sich, er betrat das Röntgenreich

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