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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Denken, Schlafengehen ständig als sich selbst empfand. Der Genosse Krymow unterschied sich von allen anderen Menschen sowohl durch seine Seele wie durch seinen Verstand, durch vorrevolutionäre Parteierfahrung und Veröffentlichungen in der Zeitschrift »Die Kommunistische Internationale«, durch große und kleine Gewohnheiten, Manieren, durch den Tonfall seiner Stimme bei Gesprächen mit Komsomolzen oder mit den Parteisekretären der Bezirkskomitees in Moskau oder mit Arbeitern, Parteiveteranen, Freunden, Bittstellern. Sein Körper war einem Menschenkörper ähnlich, seine Bewegungen glichen den Bewegungen und Gedanken eines Menschen, aber das Wesen des Genossen Krymow, seine Würde und seine Freiheit waren dahin.
    Man brachte ihn in die Zelle – ein Viereck mit gebohnertem Parkettboden, vier Betten, straff bezogen, die Decken ohne Falten, und er spürte sofort: Drei Menschen betrachteten mit menschlichem Interesse einen vierten Menschen. Ob diese Menschen gut oder schlecht waren, wusste er nicht, ob sie ihm gegenüber gleichgültig oder feindselig eingestellt waren, wusste er auch nicht, aber das Gute, Schlechte, Gleichgültige, das sie ausstrahlten, war menschlich.
    Er setzte sich auf das ihm zugewiesene Bett, und die drei auf den Betten sitzenden Männer – sie hatten aufgeschlagene Bücher auf den Knien – schauten ihn schweigend an.
    Und das Wundersame, Kostbare, das er schon verloren geglaubt hatte, kehrte zurück.
    Der Erste war massig – zerklüftete Visage, eine zerzauste Beethoven-Mähne mit vielen grauen Haaren über der niedrigen, fleischigen Stirn.
    Der Zweite war ein Greis mit papierweißen Händen, kahlem, knöchernem Schädel und einem Gesicht, das wie ein in Metall geprägtes Basrelief aussah, als flösse in seinen Arterien und Venen Eiswasser statt Blut.
    Der Dritte, der auf der Pritsche neben Krymow saß, war ein freundlicher Mann mit einem roten Fleck an der Nasenwurzel, wahrscheinlich von einer unlängst abgenommenen Brille; er schien unglücklich und gütig. Dieser Mann zeigte mit dem Finger auf die Tür, lächelte kaum merklich, schüttelte den Kopf, und Krymow verstand: Der Wachposten schaute durch das Guckloch, man musste schweigen.
    Als Erster begann der Mann mit dem zerzausten Haar zu reden. »Na ja«, sagte er träge und gutmütig, »ich gestatte mir, im Namen der Öffentlichkeit die Streitkräfte zu begrüßen. Woher kommen Sie, lieber Genosse?«
    Krymow lächelte verlegen und antwortete: »Aus Stalingrad.«
    »Aha, angenehm, einen Teilnehmer des heldenmütigen Widerstandes vor sich zu sehen. Willkommen in unserer Hütte.«
    »Rauchen Sie?«, fragte der Greis mit dem weißen Gesicht schnell.
    »Ja«, antwortete Krymow.
    Der Alte nickte und vertiefte sich wieder in sein Buch. Dann sagte der freundliche, kurzsichtige Nachbar: »Es ist nämlich so: Ich habe die Genossen im Stich gelassen. Ich hatte mich als Nichtraucher eingetragen, und jetzt wird mir kein Tabak zugeteilt.«
    Er fragte: »Wie lange sind Sie schon aus Stalingrad weg?«
    »Heute früh war ich noch da.«
    »Sieh an«, sagte der Riese, »mit einer ›Douglas‹?«
    »Jawohl«, antwortete Krymow.
    »Erzählen Sie, wie ist es in Stalingrad? Wir haben es nicht geschafft, Zeitungen zu abonnieren.«
    »Sie wollen wahrscheinlich essen«, sagte der freundliche, kurzsichtige Mann. »Wir hatten schon Abendbrot.«
    »Ich möchte nichts essen«, sagte Krymow, »und Stalingrad werden die Deutschen nicht einnehmen. Das ist jetzt völlig klar.«
    »Ich war davon schon immer überzeugt«, sagte der Riese, »die Synagoge stand und wird immer stehen.«
    Der Alte schlug sein Buch zu und fragte Krymow: »Sie sind wahrscheinlich Mitglied der Kommunistischen Partei?«
    »Ja, ich bin Kommunist.«
    »Psst, psst, Sie dürfen nur flüstern«, sagte der freundliche, kurzsichtige Mann.
    »Selbst wenn es um die Parteizugehörigkeit geht«, sagte der Riese.
    Sein Gesicht schien Krymow bekannt, und er erinnerte sich – das war doch ein berühmter Moskauer Conférencier. Irgendwann war Krymow mit Genia bei einer Veranstaltung im Säulensaal gewesen und hatte ihn auf der Bühne gesehen. Und nun begegneten sie sich persönlich.
    In dem Augenblick öffnete sich die Tür, der Wachposten schaute herein und fragte: »Wer fängt mit ›K‹ an?«
    Der Riese antwortete: »Ich fange mit ›K‹ an – Katzenellenbogen.«
    Er stand auf, glättete mit den Fingern sein zerzaustes Haar und ging ohne Eile zur Tür.
    »Zum Verhör«, flüsterte der freundliche

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