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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Verhör von einem Kommunisten geschlagenen Kommunisten …
    Er konnte die ungeheure Bedeutung des Wortes »Freiheitsentzug« immer noch nicht begreifen. Er wurde zu einem anderen Wesen, alles in ihm musste sich verändern – man hatte ihm die Freiheit genommen.
    Ihm wurde schwarz vor Augen. Er würde zu Schtscherbakow gehen, ins ZK, er hatte die Möglichkeit, sich an Molotow zu wenden, er würde keine Ruhe geben, bis dieser Oberstleutnant erschossen würde … Nehmen Sie doch mal den Hörer ab! Rufen Sie Prjachin an. Stalin selbst kennt meinen Namen. Genosse Stalin hat einmal den Genossen Schdanow gefragt: »Welcher Krymow? Der, der bei der Komintern tätig war?«
    Und gleichzeitig spürte Nikolai Grigorjewitsch unter den Füßen den Sumpf; bald würde ihn die dunkle, faserige, pechschwarze, bodenlose Masse aufsaugen … Eine unüberwindbare Macht, die offenbar stärker war als die der deutschen Infanterieeinheiten, legte sich schwer auf ihn. Er hatte die Freiheit verloren.
    Genia! Genia! Siehst du mich? Genia! Schau mich an, ich bin in schrecklicher Not! Ich bin ganz allein, verlassen, auch von dir!
    Der Sonderoffizier prügelte auf ihn ein. Sein Bewusstsein trübte sich, und seine Finger krampften sich zusammen – so gerne hätte er zurückgeschlagen. Einen solchen Hass hatte er weder den Gendarmen des Zaren noch den Menschewiki, noch dem SS-Offizier gegenüber verspürt, den er neulich verhörte.
    In dem Mann, der ihn verhörte, erkannte Krymow keinen Fremden, sondern sich selbst – den Krymow, der als Junge von den Worten des »Kommunistischen Manifests« so ergriffen war, dass er weinte: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
    Dieses Gefühl der Seelenverwandtschaft war wahrhaft schrecklich.
    3
    Es war dunkel geworden. Immer wieder erfüllte der Donner der Schlacht um Stalingrad die üble Luft der kleinen Zelle. Vielleicht schossen die Deutschen auf die Einheiten von Batjuk oder Rodimzew, die die gerechte Sache verteidigten.
    Zuweilen entstand im Flur Bewegung. Dann wurden die Türen zur Gemeinschaftszelle geöffnet, in der Deserteure, Vaterlandsverräter, Diebe und Sexualverbrecher saßen. Sie wollten dauernd austreten, und jedes Mal führte der Wachposten mit ihnen lange Debatten, bevor er die Tür öffnete.
    Als man Krymow vom Stalingrader Ufer hierhertransportiert hatte, war er für kurze Zeit in dieser Zelle untergebracht worden. Niemand hatte den Kommissar, der immer noch den Stern auf dem Ärmel trug, beachtet, man interessierte sich nur dafür, ob er Papier für Zigaretten aus Machorkakrümeln habe. Diese Menschen wollten nur eines: essen, rauchen und ihre natürlichen Bedürfnisse befriedigen.
    Wer, wer mochte ihn angezeigt haben? Welch eine innere Zerrissenheit: von der eigenen Unschuld überzeugt zu sein und zugleich im Gefühl einer ausweglosen Schuld zu erstarren. Rodimzews Stab, die Ruinen des Hauses »sechs Strich eins«, die weißrussischen Sümpfe, der Winter in Woronesch, die Brückenköpfe an den Flüssen – alles Glück und alle Leichtigkeit waren verloren.
    Schön wäre es, auf die Straße hinauszutreten, spazieren zu gehen, den Kopf zu heben und den Himmel zu betrachten. Eine Zeitung zu holen. Sich zu rasieren. Dem Bruder einen Brief zu schreiben. Eine Tasse Tee, das wäre schön. Er müsste das Buch, das er sich für den Abend ausgeborgt hatte, zurückgeben. Er wollte auf die Uhr sehen. Ins Bad gehen. Ein frisches Taschentuch aus dem Koffer nehmen. Nichts ging. Er hatte die Freiheit verloren.
    Krymow wurde bald darauf aus der Gemeinschaftszelle auf den Gang geholt, der Kommandant beschimpfte den Posten:
    »Hab ich dir, verdammt noch mal, nicht eingebläut, dass der nicht zu denen gehört? Was sperrst du das Maul auf? Willst wohl an die vorderste Front, was?«
    Nachdem der Kommandant gegangen war, begann der Wachposten Krymow sein Leid zu klagen:
    »So ist es immer. Die Einzelzelle ist belegt! Er hat mir selbst befohlen, in die Einzelzelle nur die einzusperren, die exekutiert werden. Wenn ich Sie dort reinsetze, wohin dann mit dem anderen?«
    Kurz darauf sah Nikolai Grigorjewitsch, wie Soldaten mit MPs den Todeskandidaten aus der Einzelzelle abführten. An seinem schmalen, eingefallenen Hinterkopf klebten blonde Haare. Er mochte zwanzig sein, vielleicht auch fünfunddreißig.
    Krymow kam in die freigewordene Zelle. Im Halbdunkel erkannte er auf dem Tisch einen Essnapf, und als er auf dem Tisch herumtastete, fand er daneben einen aus Brot gekneteten Hasen. Der Verurteilte hatte

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