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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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der stickigen Staatsbehördenluft, des grellen Staatsbehördenlichts – trat in ein Leben ein, das außerhalb des Krieges, am Krieg vorbei und oberhalb des Krieges verlief.
    In einem leeren, schlecht gelüfteten Zimmer mit grellem Scheinwerferlicht befahl man ihm, sich nackt auszuziehen, und während ein nachdenklicher Mann im Arztkittel seinen Körper betastete, zuckte Krymow und dachte, dass nicht einmal der Donner und das schwirrende Eisen des Krieges die methodischen Bewegungen dieser schamlosen Finger stören könnten.
    Der tote Rotarmist, in dessen Gasmaske ein vor dem Angriff geschriebener Zettel lag: »Gefallen für das glückliche Leben des sowjetischen Vaterlandes, hinterlässt Frau und sechs Kinder.« Der verkohlte Panzerfahrer, pechschwarz, mit Haarbüscheln, die noch am jungen Kopf klebten. Das millionenköpfige Volksheer, das durch Moore und Wälder marschierte, aus Kanonen und Maschinengewehren feuerte …
    Doch diese Finger verrichteten ihre Arbeit – sicher und ruhig, und Kommissar Krymow schrie unter feindlichem Beschuss: »Was denn, Genosse Generalow, Sie wollen die sowjetische Heimat nicht verteidigen …«
    »Umdrehen … bücken … Beine spreizen.«
    Nachher, angezogen, wurde er mit offenem Kragen des Uniformhemdes von vorn und von der Seite fotografiert.
    Dann hinterließ er mit unanständiger Sorgfalt seine Fingerabdrücke auf einem Stück Papier. Ein fürsorglicher Angestellter schnitt die Knöpfe von Krymows Hose ab und nahm ihm den Hosengürtel weg.
    Dann fuhr er in einem hellerleuchteten Aufzug nach oben, ging über einen Läufer durch einen langen, leeren Gang an Türen mit runden Gucklöchern vorbei. Die Krankenzimmer einer Chirurgieklinik, Krebschirurgie … Die Luft war warm, bürokratisch, erhellt durch grelles elektrisches Licht … Ein Röntgeninstitut für soziale Diagnostik …
    »Wer hat mich hier hereingebracht?«
    In dieser stickigen, blinden Luft war es schwer, nachzudenken. Träume, Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft überschnitten sich. Er verlor das Gefühl, er selbst zu sein. »Hatte ich eine Mutter? Vielleicht hatte ich gar keine.« Genia war ihm gleichgültig. »Die Sterne zwischen den Kronen der Fichten, das Übersetzen über den Don, die grüne deutsche Lichtkugel, Proletarier aller Länder, vereinigt euch, hinter jeder Tür Menschen, ich werde als Kommunist sterben, wo ist denn jetzt Michail Sidorowitsch Mostowskoi, mein Kopf dröhnt, hat Grekow wirklich auf mich geschossen? Grigori Jewsejewitsch, der lockige Vorsitzende der Komintern, ging auch über diesen Flur, was für eine schwere, beengende Luft, dieses verfluchte Scheinwerferlicht … Grekow hat auf mich geschossen, der von der Sonderabteilung hat mir eine geklebt, die Deutschen haben auf mich geschossen, was kommt denn morgen auf mich zu, ich schwöre Ihnen, ich bin unschuldig, ich müsste pinkeln, toll sangen die Alten bei Spiridonow, beim Jahrestag der Revolution, Tscheka, Tscheka, Tscheka, Dserschinski war hier Hausherr, Genrich Jagoda und dann Menschinski und noch später dieser kleine grünäugige Proletarier aus Petersburg, Nikolai Iwanowitsch, heute ist es der nette und kluge Lawrenti Pawlowitsch, ja, ja, wir sind uns schon mal begegnet, wie sangen wir noch: ›Steht auf, Verdammte dieser Erde‹, ich bin nicht schuldig, ich müsste pinkeln, wird man mich nun wirklich erschießen …«
    Wie sonderbar ist es, über diesen schnurgeraden Flur gehen zu müssen, das Leben aber ist so verworren, schmale Wege, Schluchten, Pfützen, Bäche, Steppenstaub, nicht geerntetes Korn, du schlägst dich durch, versuchst es zu umgehen, doch das Schicksal ist gerade, wie eine Saite … Flure, Flure und Türen in den Fluren.
    Krymow schritt gemessen, aber schnell, nicht langsam, als ginge der Bewacher nicht hinter ihm, sondern vor ihm.
    Von der ersten Minute an kam in der Lubjanka Neues auf ihn zu.
    »Ein geometrischer Ort«, dachte Krymow und drückte seinen Finger fester aufs Papier, ohne zu verstehen, warum er so dachte. Dabei drückte dieser Gedanke das Neue aus, das auf ihn zukam.
    Diese neue Empfindung rührte daher, dass er sich selbst allmählich verlor. Hätte er um Wasser gebeten, hätte man ihn trinken lassen; wäre er mit einem Herzanfall zu Boden gefallen, hätte ihm ein Arzt die notwendige Spritze gegeben. Aber er war nicht mehr Krymow, er spürte es, obwohl er es noch nicht begreifen konnte. Er war nicht mehr der Genosse Krymow, der sich beim Anziehen, Mittagessen, beim Kauf von Kinokarten, beim

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