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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Greisinnen schauten ihm zu.
    Mütter bestreiten das Recht, Menschen während des Krieges in den Tod zu schicken. Aber auch im Krieg kann man solche Mitstreiter des mütterlichen Untergrunds antreffen. Diese Leute sagen: »Bleib mal ruhig, wo willst du hin, hörst du nicht, wie geschossen wird? Die werden dort auf meinen Bericht noch warten können, setz lieber den Teekessel auf.« Diese Leute melden dem Vorgesetzten telefonisch: »Zu Befehl, das Maschinengewehr vorrücken«, legen den Hörer auf und sagen: »Wozu sinnlos vorrücken, der gute Junge wird doch nur getötet.«
    Nowikow kehrte zu seinem Wagen zurück. Sein Gesicht war nun finster und hart, als habe es die feuchte Dunkelheit des Novembermorgens in sich eingesogen.
    Als der Wagen anfuhr, blickte Getmanow ihn verständnisvoll an und sagte: »Weißt du, was, Pjotr Pawlowitsch? Gerade heute möchte ich dir sagen: Ich mag dich, ich glaube an dich.«
    10
    Die Stille war dicht, unteilbar, als gäbe es auf der Welt keine Steppe, keinen Nebel, nicht einmal die Wolga, sondern nur diese Stille. Über den dunklen Wolken zuckte ein helles Flackern, dann wurde der graue Nebel dunkelrot, und plötzlich rollte Donner über Himmel und Erde …
    Nahe und ferne Kanonen vereinten ihre Stimmen, das Echo festigte die Verbindung und erweiterte das vielstimmige Klanggeflecht, das den gigantischen Schlachtraum erfüllte.
    Die Lehmhütten zitterten, und Tonklumpen lösten sich von den Wänden, fielen geräuschlos zu Boden, die Türen der Häuser in den Steppendörfern öffneten und schlossen sich von selbst, Risse durchzogen den noch dünnen Eisspiegel des zugefrorenen Sees.
    Ein Fuchs rannte vorbei und wedelte mit der buschigen Rute aus seidigem Haar, ein Hase lief nicht vor ihm weg, sondern hinter ihm her; vielleicht zum ersten Mal vereint, schwangen sich Raubvögel des Tages und der Nacht mit schweren Flügeln schlagend in die Luft … Schlaftrunken sprangen hier und dort Zieselmäuse aus ihren Löchern, so wie ungekämmte, verschlafene Männer aus brennenden Häusern herausrennen.
    Wahrscheinlich stieg in den Feuerstellungen auch die Temperatur der feuchten Morgenluft durch die Berührung mit Tausenden von heißen Kanonenläufen um einige Grade.
    Vom vordersten Beobachtungsstand aus waren die Explosionen der sowjetischen Geschosse klar zu sehen, die Wirbel des fettigen schwarzgelben Qualms, die Aufschüttungen von Erde und schmutzigem Schnee, das Milchweiß des Stahlfeuers.
    Die Artillerie verstummte. Eine Rauchwolke vermischte ihre heißen, wasserlosen Strähnen langsam mit der kalten Nässe des Steppennebels.
    Und sofort erfüllte den Himmel ein neues Geräusch – knurrend, straff, weit gedehnt: Sowjetische Flugzeuge flogen gen Westen. Ihr Dröhnen, Brummen, Heulen machte die gestaffelte Höhe des bewölkten, blinden Himmels spürbar; die gepanzerten Jagdbomber und Abfangjäger wurden durch die niedrigen Wolken knapp über der Erde gehalten, in und über den Wolken brummten und dröhnten die unsichtbaren, schweren Bomber.
    Die Deutschen am Himmel über Brest, der russische Himmel über der Wolgasteppe.
    Nowikow dachte nicht darüber nach, erinnerte sich nicht, stellte keine Vergleiche an. Was er jetzt erlebte, war bedeutsamer als Erinnerungen, Vergleiche oder Gedanken.
    Es wurde still. Den Männern, die auf die Stille gewartet hatten, um das Zeichen zum Angriff zu geben, und den Männern, die bereit waren, sich nach diesem Zeichen auf die rumänischen Stellungen zu stürzen, stockte in dieser Stille einen Augenblick der Atem.
    In dieser Stille, die dem stummen, trüben Urmeer glich, in diesen Sekunden erreichte die Kurve der Menschheitsgeschichte ihren Scheitelpunkt.
    Welch ein Glück ist es, an der entscheidenden Schlacht um die Heimat teilzunehmen. Und wie grauenvoll und quälend ist es, sich dem Tod gegenüber zur vollen Größe aufzurichten, sich nicht vor ihm zu verstecken, sondern ihm entgegenzulaufen. Es ist furchtbar, so jung zu sterben! Man will doch leben, leben. Es gibt auf der Welt keinen stärkeren Wunsch als den, das junge und noch so kurze Leben zu erhalten. Dieser Wunsch beherrscht nicht das Denken, er ist stärker als die Gedanken; er beherrscht den Atem, die Nase, die Augen, die Muskeln, das Hämoglobin im Blut, das gierig Sauerstoff verschlingt. Dieser Wunsch ist so allgewaltig, dass man ihn mit nichts vergleichen und messen kann. Furchtbar ist er vor einem Angriff. Furchtbar.
    Getmanow seufzte laut und tief und sah zu Nowikow, zum Feldtelefon, zum

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