Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
eingedrungen waren und sich unaufhaltsam in Richtung Kalatsch bewegten und dass seine Panzer aus dem Süden in einigen Stunden jenen aus dem Norden entgegenfahren würden, um die Paulus-Armee einzukesseln.
    Er dachte auch nicht an den Frontbefehlshaber und daran, dass Stalin morgen vielleicht den Namen Nowikow in seinem Befehl erwähnen würde. Er dachte nicht an Jewgenia Nikolajewna, erinnerte sich nicht an den Sonnenaufgang über Brest, als er zum Flugplatz lief und am Himmel das erste Feuer des von den Deutschen entfachten Krieges aufleuchtete.
    Aber all das, woran er nicht dachte, war doch in ihm.
    Er überlegte: »Soll ich die neuen Stiefel mit den weichen Schäften anziehen oder in den alten fahren? Ich darf das Zigarettenetui nicht vergessen … Der Hundesohn hat wieder kalten Tee serviert.« Er aß die Spiegeleier und stippte die zerlassene Butter sorgsam mit einem Stück Brot aus der Pfanne.
    Werschkow meldete: »Befehl ausgeführt«, und er fügte vertraulich und missbilligend hinzu: »Ich frage den MP-Schützen: ›Ist er da?‹, und der antwortet mir: ›Wo soll er denn sonst sein, schläft mit einem Weibsbild.‹«
    Der MP-Schütze hatte einen kräftigeren Ausdruck als »Weibsbild« gebraucht, aber Werschkow brachte dieses Wort im Gespräch mit dem Korpskommandeur nicht über die Lippen.
    Nowikow schwieg, zerdrückte mit der Fingerkuppe die Brotkrümel und klaubte sie vom Tisch.
    Kurz darauf kam Getmanow herein.
    »Tee?«, fragte Nowikow.
    Getmanow sagte in abgehacktem Tonfall: »Es ist Zeit zu fahren, Pjotr Pawlowitsch. Tee und Zucker ein anderes Mal, wir müssen die Deutschen besiegen.«
    »Sieh mal an«, dachte Werschkow.
    Nowikow ging in die Stabsstube des Hauses, sprach mit Neudobnow über die Funkverbindung und die Befehlsübermittlung und schaute sich die Landkarte an.
    Die Dunkelheit voll trügerischer Stille erinnerte Nowikow an seine Kindheit im Donbass. Genauso schien dort alles zu schlafen, kurz bevor die Luft sich mit dem Lärm von Sirenen und Hupen füllte und die Menschen zu den Zechen und Werkstoren strömten. Aber der kleine Pjotr Nowikow, der schon vor dem Sirenenton aufgewacht war, wusste, dass nun Hunderte von Händen im Dunkeln nach Fußlappen tasteten, Stiefel suchten, dass nackte Frauenfüße über den Fußboden patschten, Geschirr und Töpfe klirrten.
    »Werschkow«, sagte Nowikow, »lass meinen Panzer zum Beobachtungsstand bringen. Ich werde ihn heute brauchen.«
    »Zu Befehl«, sagte Werschkow. »Ich werde auch alle Klamotten aufladen. Ihre und die des Kommissars.«
    »Vergiss den Kakao nicht«, sagte Getmanow.
    Neudobnow trat vor das Haus; er hatte den Mantel über die Schultern geworfen.
    »Generalleutnant Tolbuchin hat gerade angerufen und gefragt, ob der Korpskommandeur schon auf dem Weg zum Beobachtungsstand ist.«
    Nowikow nickte, berührte den Fahrer an der Schulter und befahl: »Fahr los, Charitonow!«
    Der Weg führte aus dem Dorf heraus, ließ das letzte Haus hinter sich, machte eine Kurve, dann noch eine und verlief nun schnurgerade zwischen weißen Schneeflecken und trockenem Steppengras nach Westen.
    Sie passierten die Senken, wo die Panzer der ersten Brigade konzentriert waren.
    Plötzlich sagte Nowikow zu Charitonow: »Halt mal an.« Er sprang aus dem Geländewagen und begab sich zu den Kriegsmaschinen, die im Morgengrauen eine dunkle Masse bildeten.
    Er ging umher, ohne jemanden anzusprechen, und betrachtete die Gesichter der Männer.
    Ihm fielen die noch nicht kahl geschorenen Jungs aus der Reserve ein, die er vor ein paar Tagen auf dem Dorfplatz gesehen hatte. In der Tat, es waren Kinder, aber alles auf der Welt war darauf ausgerichtet, sie ins Feuer zu schicken: die Pläne des Generalstabs, der Befehl des Frontbefehlshabers und der Befehl, den er in einer Stunde den Brigadekommandeuren geben würde, die Worte, die diese jungen Kerle von den politischen Kommissaren hörten, und die Worte, die in Zeitungsartikeln und Gedichten standen – sie alle lauteten gleich: »Ins Gefecht! In die Schlacht!« Im dunklen Westen aber wartete man nur darauf, auf sie zu schießen, sie zu zerfetzen, sie mit Panzerketten zu zermalmen.
    »Es wird eine Hochzeit geben!« Ja, aber ohne süßen Rotwein, ohne Harmonika. »Küsst euch«, würde Nowikow schreien, und die neunzehnjährigen Bräutigame würden sich nicht drücken und ihre Bräute ehrlich küssen.
    Nowikow war, als ginge er zwischen Brüdern, Neffen und Nachbarssöhnen umher, und Tausende unsichtbarer Frauen, Mädchen und

Weitere Kostenlose Bücher